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»Genau darum geht es«, sagte der Mann. »Wie bitte?«

»Wie kriegen wir es geregelt?«

Sigurður Óli hörte Bergþóra zur Tür hereinkommen. »Jetzt muss ich Schluss machen«, erklärte er. »Das ist blanker Unsinn.«

»Ja, ich auch«, sagte der Mann. »Ich muss Schluss machen.« Dann legte er auf.

Zweiundzwanzig

Er verfolgte die Berichterstattung über den Skelettfund im Kleifarvatn im Rundfunk, im Fernsehen und in den Zeitungen genau mit und bemerkte, dass immer weniger darüber gemeldet wurde, bis der Fall schließlich völlig in den Hintergrund rückte. Nur noch ganz vereinzelt kam eine Meldung, dass sich in der Ermittlung nichts Neues ergeben habe, und man berief sich dabei auf einen gewissen Sigurður Óli bei der Kriminalpolizei. Ihm war klar, dass es nichts zu bedeuten hatte, wenn auf einmal keine Nachrichten mehr verlautbarten. Die Ermittlungen waren bestimmt noch in vollem Gange, und falls sie gut vorankamen, würden sie eines Tages vor seiner Tür stehen. Vielleicht schon bald. Vielleicht dieser Sigurður Óli. Möglicherweise würden sie aber auch nie herausfinden, was geschehen war. Er musste im Stillen lächeln. Er war sich nicht mehr sicher, ob es das war, was er wollte. Es hatte viel zu lange auf ihm gelastet. Manchmal kam es ihm so vor, als hätten sich sein Leben und seine Existenz ausschließlich um die Angst vor der Vergangenheit gedreht.

Früher hatte er manchmal den unwiderstehlichen Drang verspürt — einen Drang, den er nur schwer unter Kontrolle zu halten vermochte —, von dem, was geschehen war, zu erzählen, sich zu stellen und die Wahrheit zu sagen. Aber er widerstand der Versuchung jedes Mal und beruhigte sich wieder. Mit der Zeit verschwand dieses Bedürfnis, und eine gewisse Taubheit gegenüber dem, was passiert war, nistete sich bei ihm ein. Er bereute nichts. Er hätte es nicht anders haben wollen, so wie die Dinge lagen.

Immer, wenn er zurückdachte, stand ihm Ilonas Antlitz vor Augen, als er sie zum ersten Mal sah. Als sie sich in der Küche des Wohnheims zu ihm setzte und er ihr das Gedicht von Jónas Hallgrímsson erklärte und sie ihn küsste.

Wenn er allein mit seinen Gedanken war und sich den Erinnerungen an das, was ihm so kostbar gewesen war, hingab, glaubte er fast, den weichen Kuss auf seinen Lippen zu spüren.

Er setzte sich auf einen Sessel am Fenster und dachte zurück an den Tag, als seine Welt zusammenbrach.

Im nächsten Sommer fuhr er nicht nach Island, sondern arbeitete eine Zeit lang in einer Braunkohlengrube und bereiste anschließend mit Ilona die DDR. Eigentlich hatten sie nach Ungarn fahren wollen, aber er erhielt keine Reiseerlaubnis. Ihm wurde gesagt, dass es immer schwieriger wurde, solche Genehmigungen zu bekommen, wenn man nicht aus den Ostblockländern stammte. Er hörte ebenfalls, dass die Reisen in die Bundesrepublik stark eingeschränkt worden waren.

Sie reisten mit Zügen und Bussen und wanderten viel. Sie genossen es, nur zu zweit unterwegs zu sein. Manchmal schliefen sie unter freiem Himmel, manchmal in kleinen Pensionen, in Schulgebäuden oder auf Bahnhöfen. Es kam auch vor, dass sie einige Tage in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiteten, die am Wege lagen. Sie hielten sich längere Zeit auf einem Hof auf, wo Schafe gezüchtet wurden, und der Bauer war sehr angetan davon, dass ein Isländer bei ihm aufgekreuzt war. Er stellte viele Fragen nach der Insel im Norden, vor allem aber erkundigte er sich nach dem Snæfellsjökull, denn es stellte sich heraus, dass er Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde gelesen hatte.

Sie blieben zwei Wochen dort, und es machte ihnen Spaß, auf dem Hof zu arbeiten. Sie lernten einiges über die Landwirtschaft. Als sie sich von dem Bauern und seiner Familie verabschiedeten, waren ihre Rucksäcke prall gefüllt mit Lebensmitteln.

Sie erzählte ihm von ihrem Elternhaus in Budapest und ihren Eltern, die beide Mediziner waren. Sie hatte ihnen in ihren Briefen von ihm erzählt. Was habt ihr für Pläne?, hatte ihre Mutter in einem Brief gefragt. Sie war die einzige Tochter. Ilona hatte ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen solle, aber das nützte nicht viel. Wollt ihr heiraten? Was ist mit dem Studium? Was ist mit der Zukunft? Es waren alles Fragen, über die sie selber auch nachgedacht hatten, sowohl gemeinsam als auch jeder für sich, aber sie brannten ihnen nicht auf der Seele. Nur sie beide in der Gegenwart waren wichtig. Die Zukunft war ein unbekanntes, geheimnisvolles Land, und sie wussten nur eines, dass sie gemeinsam auf dem Weg dorthin waren.

Manchmal erzählte sie ihm abends von ihren Freunden in Ungarn und war sich sicher, dass sie ihn mit offenen Armen empfangen würden. Sie erzählte ihm, wie sie stundenlang in Kneipen und Cafés saßen und über die Veränderungen diskutierten, die geschehen mussten und die bevorstanden. Ilona war voller Begeisterung, wenn sie sich ein freies Ungarn vorstellte. Von der Freiheit, die er selber sein ganzes Leben lang genossen hatte, sprach sie wie von einem unfassbaren und fernen Traumbild. Ilona und ihre Freunde sehnten sich nach etwas, das für ihn eine solche Selbstverständlichkeit war, dass er nie ernsthaft darüber nachgedacht hatte. Sie berichtete von Freunden, die verhaftet wurden und ins Gefängnis kamen, und anderen Leuten, von denen sie gehört hatte, dass sie spurlos verschwunden waren und niemand wusste, was aus ihnen geworden war. Er spürte die Angst in ihrer Stimme, aber auch die Hochstimmung, die damit verbunden war, eine tiefe Überzeugung zu haben und bereit zu sein, für sie zu kämpfen, was für Opfer es auch kosten möge. Er spürte ihre innere Spannung und die Erwartungen, die damit verbunden sind, wenn große Ereignisse bevorstehen.

In diesen Wochen, in denen sie zusammen auf Reisen waren, hatte er viel Zeit zum Nachdenken, und er gelangte zu der Überzeugung, dass der Sozialismus, den er in Leipzig kennen gelernt hatte, auf Lügen aufbaute. Er verstand immer besser, wie Hannes zumute gewesen war. Er war jetzt, genau wie Hannes seinerzeit, zu Verstand gekommen und hatte entdeckt, dass es nicht nur eine Wahrheit, und zwar die sozialistische, gab, sondern dass eine einzige unumstößliche simple Wahrheit nicht existierte. Sein Weltbild war ins Wanken geraten, und er musste sich mit ganz neuen und drängenden Fragen beschäftigen. Die erste und wichtigste war, wie er reagieren sollte. Er befand sich jetzt in der gleichen Situation wie Hannes. Sollte er sein Studium in Leipzig fortsetzen? Sollte er lieber nach Island zurückkehren? Die Voraussetzungen für seinen Studienaufenthalt hatten sich von Grund auf gewandelt. Was sollte er seiner Familie sagen? Aus Island war ihm zu Ohren gekommen, dass Hannes, der früher an der Spitze der Jugendorganisation gestanden hatte, Zeitungsartikel veröffentlichte und Vorträge hielt, in denen er von seinen Erfahrungen in der DDR berichtete und die kommunistischen Denkschablonen kritisierte. Das hatte nicht wenig Aufruhr und Empörung in den Reihen der isländischen Sozialisten verursacht, denn es schwächte die hehre Sache erheblich, nicht zuletzt auch wegen der Ereignisse in Ungarn.

Er war immer noch Sozialist, und daran würde sich auch nichts ändern, aber der Sozialismus, den er in Leipzig kennen gelernt hatte, war nicht das, was ihm vor Augen schwebte.

Und was würde aus Ilona werden? Er wollte nichts mehr tun ohne sie. Was immer sie von nun an unternahmen, unternahmen sie gemeinsam.

Über all das sprachen sie während der letzten Tage ihrer Reise, und sie kamen zu einem gemeinsamen Ergebnis.

Sie würde weiterstudieren und weiter Untergrundarbeit betreiben, Informationen weitergeben und von der Entwicklung in Ungarn berichten. Er würde ebenfalls weiterstudieren und so tun, als sei nichts vorgefallen. Er dachte an die Strafpredigt, die er Hannes gehalten hatte, als er ihn beschimpfte, die Gastfreundschaft der SED zu missbrauchen. Jetzt hatte er genau dasselbe vor und konnte es nur schlecht vor sich selbst rechtfertigen.

Er fühlte sich unwohl. Noch nie hatte er sich in einer so zwiespältigen Situation befunden. Zuvor war sein Leben viel einfacher und sicherer gewesen. Er musste an seine Freunde daheim denken, was sollte er ihnen sagen? Er hatte den Boden unter den Füßen verloren. Alles, an was er früher so fest geglaubt hatte, war ihm jetzt fremd. Er wusste, dass er auch weiterhin für die sozialistischen Ideale arbeiten würde, für eine gerechtere Verteilung des Reichtums und gegen Ausbeutung und Unterdrückung, doch der Sozialismus, wie er sich ihm in der DDR-Realität offenbarte, war nichts, woran man glauben oder wofür man kämpfen konnte. Sein Gesinnungswechsel hatte sich gerade erst angebahnt. Er würde einige Zeit brauchen, bis er das alles verarbeitet hatte, und in der Zwischenzeit hatte er nicht vor, radikale Entscheidungen zu treffen.