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Als sie wieder nach Leipzig zurückkamen, zog er aus der alten Villa aus und bei Ilona ein. Sie schliefen zusammen in ihrem schmalen Bett. Die alte Dame, die ihr das Zimmer vermietete, war zunächst dagegen, denn sie war katholisch und auf Sitte und Anstand bedacht, doch nach einigem Drängen gab sie nach. Er unterhielt sich manchmal mit ihr, und sie erzählte ihm, dass sie ihren Ehemann und ihre beiden Söhne bei der Belagerung von Stalingrad verloren hatte, und zeigte ihm Bilder von ihnen. Er verstand sich gut mit ihr und erledigte manches für sie, reparierte kleinere Sachen in der Wohnung, kaufte das eine oder andere an Lebensmitteln ein und kochte. Seine Freunde aus dem Wohnheim kamen manchmal zu Besuch, aber er spürte, wie er sich mehr und mehr von ihnen entfernte. Sie wiederum spürten, dass er anders war als sonst und nicht mehr so gesprächig wie früher.

Emíl, der ihm am nächsten gestanden hatte, setzte sich einmal in der Unibibliothek zu ihm und brachte das zur Sprache.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte Emíl und zog die Nase hoch. Er hatte eine Erkältung. Der Herbst war nasskalt und düster, und im Wohnheim wurde es nicht richtig warm.

»In Ordnung?«, wiederholte er. »Doch, bei mir ist alles in Ordnung.«

»Ach, es ist nur, weil …«, sagte Emíl, »… oder … wir finden, dass du uns irgendwie aus dem Weg gehst, aber das ist vielleicht Quatsch.« Er sah Emíl an.

»Natürlich ist das Quatsch«, sagte er. »Bei mir hat sich bloß so vieles geändert. Da ist Ilona. Du weißt doch, es hat sich vieles geändert.«

»Ja, ich weiß«, entgegnete Emíl besorgt. »Natürlich, Ilona und so. Weißt du eigentlich irgendetwas über dieses Mädchen?«

»Ich weiß alles über sie«, sagte er lachend. »Es ist schon alles in Ordnung, Emíl. Mach dir keine Gedanken.«

»Lothar hat etwas über sie gesagt.«

»Lothar? Ist er wieder da?«

Er hatte seinen Freunden nicht erzählt, was Ilonas Kameraden über Lothar Weiser gesagt hatten, und seinen Anteil daran verschwiegen, dass Hannes von der Uni geflogen war. Lothar war zu Semesterbeginn nicht aufgetaucht, und erst jetzt hörte er wieder von ihm. Er hatte sich vorgenommen, Lothar und allem, was mit ihm in Verbindung stand, aus dem Weg zu gehen und es zu vermeiden, mit ihm oder über ihn zu sprechen.

»Er hat vorgestern Abend mit uns in der Küche zusammengesessen«, sagte Emíl. »Er brachte Schweinekoteletts mit. Der kommt immer an Essen ran.«

»Was hat er über Ilona gesagt? Weshalb hat er über Ilona gesprochen?«

Er versuchte, seine Erregung zu verbergen, aber darin war er nicht sonderlich geschickt. Er war sehr aufgewühlt und starrte Emíl unverwandt an.

»Nichts, bloß, dass sie Ungarin ist und dass die Ungarn mit Vorsicht zu genießen sind«, sagte Emíl. »Irgendwas in dem Stil. Alle reden darüber, was in Ungarn passiert, aber niemand scheint genau zu wissen, was wirklich los ist. Hast du vielleicht durch Ilona was mitgekriegt? Was passiert da eigentlich in Ungarn?«

»Ich weiß kaum etwas«, sagte er, »bloß dass die Leute über Veränderungen reden. Was hat Lothar genau über Ilona gesagt? Dass sie mit Vorsicht zu genießen ist? Was hat er damit gemeint?«

Emíl spürte seine Erregung und versuchte, sich an das, was Lothar gesagt hatte, zu erinnern.

»Er hat gesagt, dass er nicht wüsste, woran er mit ihr sei«, sagte Emíl schließlich zögernd. »Er hat seine Zweifel daran, ob sie wirklich überzeugte Sozialistin ist, und außerdem meinte er, dass sie einen schlechten Einfluss auf die Leute in ihrer Umgebung hat. Sie würde hinter dem Rücken von Leuten schlecht über sie reden, auch über uns, die wir sie kennen, und über dich. Er hat gesagt, sie würde schlecht über uns reden, das hätte sie in seinem Beisein gemacht.«

»Warum sagt er so was? Was weiß er schon über Ilona? Sie kennen sich doch so gut wie gar nicht. Sie hat sich nie mit ihm unterhalten.«

»Ich weiß nicht«, sagte Emíl, »das hat er vielleicht nur so dahergeredet, meinst du nicht?« Er schwieg tief in Gedanken versunken.

»Tómas«, sagte Emíl. »Hat er das nicht nur so dahergeredet?«

»Natürlich ist das dummes Gerede«, antwortete er. »Er kennt Ilona überhaupt nicht. Sie hat nie schlecht über euch geredet. Das ist eine verdammte Lüge! Lothar ist …« Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Emíl erzählt, was er über Lothar erfahren hatte, aber plötzlich wurde ihm klar, dass er das nicht durfte. Er spürte, dass er Emíl nicht trauen konnte. Seinem Freund. Es gab keinen besonderen Grund dafür, ihm zu misstrauen, aber sein Leben drehte sich nur noch darum, zu überlegen, wem er trauen konnte und wem nicht. Mit wem er sich über das, was ihm auf dem Herzen lag, unterhalten konnte und mit wem nicht. Nicht weil die anderen hinterhältig waren und ihm in den Rücken fallen würden, sondern weil sie unvorsichtige Äußerungen anderen gegenüber machen konnten, so wie er sich unvorsichtig über Hannes ausgelassen hatte. Das galt für alle seine Freunde im Wohnheim, Emíl, Hrafnhildur und Karl. Er hatte ihnen seinerzeit davon erzählt, was er bei Ilona und ihren Freunden im Keller erlebt hatte und wieso Ilona und Hannes sich kannten. Dass alles sehr spannend sei und sogar gefährlich. So würde er in Zukunft nie wieder reden können.

Besonders vor Lothar musste er sich in Acht nehmen. Er zerbrach sich den Kopf darüber, weshalb Lothar vor seinen Freunden so über Ilona redete. Er überlegte krampfhaft, ob der Deutsche irgendwann einmal so über Hannes gesprochen hatte, aber er konnte sich nicht erinnern. Vielleicht war das eine Botschaft an ihn und Ilona. Sie wussten so gut wie nichts über diesen Lothar. Sie wussten nicht einmal genau, für wen er arbeitete. Ilona teilte die Meinung ihrer Freunde, die davon ausgingen, dass er für die Stasi arbeitete.

Vielleicht gehörte das zu den Methoden des Staatssicherheitsdienstes, Personen innerhalb eines kleinen Freundeskreises zu denunzieren und Zwietracht zu säen.

»Tómas?« Emíl versuchte, seine Aufmerksamkeit wiederzuerlangen.

»Was ist mit Lothar?«

»Entschuldige«, sagte er, »ich habe nachgedacht.«

»Du wolltest gerade was über Lothar sagen.«

»Nein«, sagte er, »das war nichts.«

»Was ist mit dir und Ilona?«, fragte Emíl.

»Mit uns? Wieso?«, sagte er.

»Wollt ihr zusammenbleiben?«, fragte Emíl zögernd.

»Was soll denn das? Selbstverständlich. Warum fragst du danach?«

»Du solltest dich in Acht nehmen«, entgegnete Emíl.

»Was meinst du denn damit?«

»Nichts. Nur, nachdem Hannes von der Uni geflogen ist, weiß man nicht, was passieren kann.«

Er erzählte Ilona von seinem Gespräch mit Emíl und versuchte, so gut es ging, es herunterzuspielen. Er sah ihr jedoch sofort an, dass sie beunruhigt war, sie fragte ihn in allen Einzelheiten danach, wie Emíl sich ausgedrückt hatte. Sie versuchten sich klar zu machen, was Lothar damit bezweckte. Er hatte offensichtlich angefangen, sie bei den anderen Studenten und bei denen, die Umgang mit ihr hatten, nämlich seinen Freunden, zu verleumden. War das womöglich nur der Anfang? Konnte es sein, dass Lothar sie ganz speziell observierte? Konnte es sein, dass er über die geheimen Treffen Bescheid wusste? Sie beschlossen, sich in den nächsten Wochen bedeckt zu halten.