»Im schlimmsten Fall schieben sie uns einfach ab«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Was können sie sonst schon tun? Wir machen dann dasselbe durch wie Hannes. Was Schlimmeres bestimmt nicht.«
»Nein«, sagte er tröstend, »Schlimmeres bestimmt nicht.«
»Sie können mich wegen Verrat am Arbeiter- und Bauernstaat festnehmen«, sagte sie, »wegen demagogischer Umtriebe gegen die SED. Worte haben sie genug dafür.«
»Kannst du nicht damit aufhören? Zumindest für eine Weile? Eine Zeit lang abwarten, was wird?« Sie schaute ihn an.
»Was meinst du damit?«, sagte sie. »Ich lass mir doch von so einem Idioten wie Lothar keine Vorschriften machen.«
»Ilona!«
»Ich sage meine Meinung«, erklärte sie. »Immer. Ich sage allen, die es wissen wollen, was in Ungarn passiert, was die Menschen für Veränderungen wollen. Das habe ich immer gemacht, wie du weißt. Ich habe nicht vor, damit aufzuhören.«
Sie schwiegen beide sorgenvoll.
»Was ist das Schlimmste, das sie tun können?«
»Dich nach Hause schicken.«
»Sie schicken mich nach Hause.« Sie blickten einander in die Augen.
»Wir müssen uns in Acht nehmen«, sagte er. »Du musst vorsichtig sein. Versprich es mir.«
Wochen und Monate vergingen. Ilona machte weiter wie bisher, war aber vorsichtiger als je zuvor. Er ging seinem Studium nach, aber seine Sorgen um Ilona mehrten sich, und er bat sie immer wieder, Vorsicht an den Tag zu legen.
Dann lief ihm eines Tages Lothar über den Weg. Er hatte ihn lange Zeit nicht gesehen. Er dachte an das, was im Anschluss an jene letzte Begegnung passiert war, und ihm wurde klar, dass es kein zufälliges Treffen sein konnte. Er kam aus einem Seminar und war auf dem Weg in die Stadt, um Ilona bei der Thomaskirche zu treffen, als Lothar um die Ecke bog. Er lief ihm direkt in die Arme. Lothar lächelte und begrüßte ihn herzlich. Er erwiderte den Gruß nicht und wollte weitergehen, als Lothar ihn am Arm packte.
»Grüßt du einen nicht mehr?«
Er riss sich los und ging weiter. Er war schon ein Stockwerk tiefer, als er sich wieder am Arm gepackt fühlte.
»Wir sollten miteinander reden«, sagte Lothar, als er sich umdrehte.
»Wir haben nichts miteinander zu bereden«, sagte er.
Lothar hatte zwar wieder sein Lächeln aufgesetzt, aber es erreichte nicht seine Augen.
»Ganz im Gegenteil«, sagte Lothar, »wir haben sehr, sehr viel miteinander zu bereden.«
»Lass mich in Ruhe«, sagte er, ging weiter die Treppe hinunter und gelangte auf die Etage, wo sich die Kaffeestube befand. Er blickte sich nicht um und hoffte, dass Lothar aufgegeben hätte, aber der Wunsch ging nicht in Erfüllung.
Lothar hielt ihn wieder an und sah sich um. Er wollte kein Aufsehen erregen.
»Was soll denn das eigentlich?«, sagte er böse zu Lothar.
»Ich habe nichts mit dir zu bereden, kapier das doch. Lass mich in Ruhe!«
Er versuchte, an ihm vorbeizukommen, aber Lothar verhinderte das.
»Was ist los?«, fragte Lothar.
Er schwieg und starrte ihm in die Augen. »Was ist los?«, wiederholte Lothar. »Nichts«, sagte er. »Lass mich in Frieden.«
»Sag mir, warum du nicht mit mir reden willst. Ich dachte, wir wären Freunde.«
»Nein, wir sind keine Freunde«, sagte er. »Hannes war mein Freund.«
»Hannes?«
»Ja, Hannes.«
»Ist es wegen Hannes?«, fragte Lothar. »Benimmst du dich seinetwegen so komisch?«
»Lass mich«, sagte er.
»Was habe ich mit Hannes zu tun?«
»Du …«
Er verstummte abrupt. Was hatte Lothar mit Hannes zu tun? Er hatte Lothar nicht gesehen, seit Hannes relegiert worden war. Lothar war danach wie vom Erdboden verschluckt gewesen. In der Zwischenzeit hatte er aber von Ilona und ihren Freunden erfahren, dass Lothar im Auftrag der Stasi arbeitete, er war ein Informant und Denunziant, ein Mann, der versuchte, die Leute dazu zu bringen, ihre Freunde auszuhorchen, was sie dachten und was sie sagten. Lothar wusste nichts von diesem Verdacht. Er war im Begriff gewesen, ihm alles zu sagen, ihm das zu sagen, was Ilona über ihn erzählt hatte. Aber plötzlich durchzuckte es ihn wie ein Blitz: Wenn es irgendetwas gab, was er unter gar keinen Umständen tun durfte, dann war es, Lothar Vorhaltungen zu machen und ihm zu verstehen zu geben, dass er etwas über ihn wusste. Er merkte, wie weit er noch davon entfernt war, das Spiel, auf das er sich eingelassen hatte, zu beherrschen, nicht nur Lothar, sondern auch seinen Landsleuten gegenüber, und im Grunde genommen allen, mit denen er in Berührung kam, außer Ilona.
»Was ist mit mir?«, fragte Lothar beharrlich.
»Nichts«, sagte er.
»Hannes gehörte hier nicht mehr hin«, sagte Lothar. »Er hatte hier nichts mehr zu suchen, das hast du selber gesagt. Du hast es zu mir gesagt, du bist zu mir gekommen, und wir haben darüber geredet. Wir saßen in der Kneipe, und du hast dich darüber aufgeregt, wie beschissen du sein Verhalten fandest. Hannes und du, ihr wart keine Freunde.«
»Nein, das ist richtig«, sagte er und hatte dabei einen ekelhaften Geschmack im Mund. »Wir waren keine Freunde.« Er fand, dass er das sagen musste. Er war sich nicht vollständig darüber im Klaren, über wen oder was er einen Schutzschild hielt. Er wusste nicht mehr genau, wo er selber stand. Warum sagte er nicht unverblümt seine Meinung, wie es immer seine Art gewesen war? Das hier war ein Blindekuh-Spiel, das er nicht begriff. Er war gezwungen, sich blind vorzutasten. Vielleicht fehlte es ihm an Mut. Vielleicht war er feige. Er dachte an Ilona. Sie hätte genau gewusst, was sie Lothar sagen sollte.
»Ich habe aber nie gesagt, dass er von der Uni verwiesen werden müsste.«
»Mir kommt es aber so vor, als hättest du doch etwas in der Richtung geäußert«, entgegnete Lothar.
»Das habe ich nicht gemacht«, sagte er und erhob die Stimme. »Das ist eine Lüge!«
Lothar lächelte. »Immer ruhig Blut«, sagte er.
»Lass mich in Frieden.«
Er wollte weitergehen, aber Lothar ließ ihn nicht vorbei. Er wurde drohender, packte ihn fester am Arm, zog ihn zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr. »Wir müssen miteinander reden.«
»Wir haben nichts miteinander zu bereden«, erwiderte er und versuchte, sich loszureißen, aber Lothar hielt ihn am Arm gepackt.
»Wir müssen uns einmal über deine Ilona unterhalten«, sagte Lothar.
Es durchzuckte ihn siedend heiß. Seine Muskeln erschlafften, und Lothar merkte, wie sein Arm für einen Augenblick völlig kraftlos wurde.
»Wovon redest du eigentlich?«, fragte er und versuchte, normal zu klingen.
»Ich bin der Meinung, dass du dich in keiner guten Gesellschaft befindest«, sagte Lothar, »und jetzt spreche ich als dein Betreuer und Genosse zu dir. Du entschuldigst, wenn ich mich da einmische.«
»Wovon redest du eigentlich?«, wiederholte er. »Nicht in guter Gesellschaft? Ich glaube, es geht dich nichts an, in was für …«
»Ich glaube, dass sie sich mit ganz anderen Leuten abgibt als uns beiden«, unterbrach Lothar ihn. »Ich fürchte, dass sie dich mit in den Dreck zieht.«
Er starrte Lothar sprachlos an. »Von was in aller Welt redest du eigentlich?«, fragte er ein drittes Mal, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
Ihm fiel nichts ein. Er konnte an nichts anderes denken als an Ilona.
»Wir wissen, dass sie geheime Treffen organisiert«, sagte Lothar. »Wir wissen, welche Leute da zusammenkommen. Wir wissen auch, dass du daran teilgenommen hast. Wir wissen von den Propagandaschriften, die sie verteilt.«
Er traute seinen Ohren nicht.
»Lass dir doch von uns helfen«, sagte Lothar.
Er starrte Lothar an, der ihm mit ernster Miene in die Augen schaute. Lothar hatte die Maske abgelegt. Das falsche Lächeln war verschwunden. Er konnte nur noch unbeugsame Härte aus seiner Miene herauslesen.