»Von euch? Wer seid ihr? Was meinst du eigentlich?«
»Komm mit«, sagte Lothar. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
»Ich komme nicht mit«, sagte er. »Ich brauche nicht mitzukommen!«
»Du wirst es nicht bereuen«, sagte Lothar seelenruhig wie zuvor. »Ich versuche, dir zu helfen. Versuch, das zu verstehen. Lass mich dir etwas zeigen. Damit du begreifst, wovon ich rede.«
»Was kannst du mir zeigen?«, sagte er.
»Komm«, sagte Lothar und schob ihn regelrecht vor sich her. »Ich versuche, dir zu helfen. Glaub mir.«
Er sträubte sich zunächst, aber dann gewannen Angst und Neugier die Oberhand, und er gab nach. Falls Lothar ihm etwas zu zeigen hatte, war es vielleicht besser, sich das anzusehen, als sich ihm zu verweigern. Sie verließen das Universitätsgebäude und überquerten den Karl-Marx-Platz. Er sah bald, dass Lothar auf das Eckhaus am Dittrichring 24 zusteuerte, wo sich die Stasizentrale in Leipzig befand. Er verlangsamte seinen Schritt und blieb stehen, als Lothar sich anschickte, die Treppen zum Eingang hinaufzugehen.
»Und was sollen wir hier?«, fragte er.
»Komm«, sagte Lothar. »Wir müssen mit dir reden. Mach es nicht komplizierter für dich als unbedingt nötig.«
»Komplizierter? Du kriegst mich da nicht rein!«
»Entweder kommst du jetzt freiwillig mit, oder sie werden dich einfach holen«, sagte Lothar. »Es ist besser, so mitzukommen.«
Er stand immer noch da und rührte sich nicht von der Stelle. Am liebsten wäre er weggerannt. Was wollte die Stasi von ihm? Er hatte nichts getan. Er sah sich an der Straßenecke um. Würde jemand sehen, wie er da hineinging? »Was meinst du damit?«, fragte er leise. Er hatte es mit der Angst bekommen.
»Komm«, sagte Lothar und öffnete die Tür.
Zögernd stieg er die Treppe hoch und folgte Lothar in das Gebäude. Sie kamen in einen kleinen Eingangsbereich mit grauen Steinstufen und rostrotem Marmor an den Wänden. Oben angekommen, führte eine Tür nach links in ein Anmeldezimmer. Das Linoleum und die Wände waren dreckig, und es roch nach Rauch, Schweiß und Angst. Lothar nickte dem Mann am Schreibtisch zu und öffnete die Tür zu einem langen Korridor mit grün gestrichenen Türen zu beiden Seiten. In der Mitte des Korridors war eine Nische, in der die Tür zu einem Büro offen stand. Daneben befand sich eine schmale Stahltür. Lothar betrat das Büro, in dem ein müde wirkender Mann mittleren Alters am Schreibtisch saß. Er schaute hoch und begrüßte Lothar mit einem Kopfnicken.
»Das hat ja vielleicht gedauert«, sagte der Mann zu Lothar.
Tómas beachtete er gar nicht.
Der Mann rauchte übel riechende, unförmige Zigaretten.
Seine Finger waren gelblich braun, und der Aschenbecher quoll über von winzigen Stummeln. Er hatte einen buschigen Schnauzbart, und um den Mund herum waren die Haare von Zigarettenglut angesengt worden. Er war ein dunkler Typ und an den Schläfen leicht ergraut. Er zog eine Schublade auf, entnahm ihr eine Mappe und öffnete sie. In der Mappe waren einige Blätter und Schwarzweißfotos.
Der Mann nahm die Fotos zur Hand, betrachtete sie und warf sie ihm dann hin.
»Bist du nicht auch da drauf?«, fragte er.
Er griff nach den Fotos. Er brauchte geraume Zeit, um zu erkennen, was darauf zu sehen war. Sie waren abends gemacht worden und aus ziemlich großer Entfernung; Leute kamen aus einem Häuserblock heraus. Über der Tür war eine Außenlampe, die die Gruppe beleuchtete. Er starrte intensiv auf das Foto und erkannte auf einmal Ilona und einen Mann, der auf den geheimen Treffen gewesen war, und auch eine Frau aus der Gruppe, und dann erkannte er sich selbst. Er ging die Bilder durch. Einige waren Vergrößerungen von den Gesichtern, auch von ihm und Ilona.
Der Mann mit dem buschigen Schnauzbart hatte sich eine neue Zigarette angesteckt und lehnte sich zurück. Lothar saß in einer Ecke des Büros auf einem Stuhl. An einer Wand hingen ein riesengroßer Stadtplan von Leipzig und ein Foto von Ulbricht. An den anderen Wänden standen drei imposante Stahlschränke mit Aktenordnern.
Er wandte sich an Lothar und versuchte, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken.
»Was ist das?«, fragte er.
»Das solltest du uns doch wohl eher sagen können«, gab Lothar zurück.
»Wer hat diese Fotos gemacht?«
»Findest du, dass das eine Rolle spielt?«, fragte Lothar.
»Werde ich beschattet?«
Lothar und der Mann mit dem angesengten Schnauzbart warfen sich Blicke zu. Lothar fing an zu lachen.
»Was willst du?«, fragte er und richtete seine Worte an Lothar. »Warum habt ihr diese Fotos gemacht?«
»Weißt du, was das für Leute sind?«, fragte Lothar.
»Ich kenne die Leute nicht«, erwiderte er, was nicht gelogen war. »Natürlich mit Ausnahme von Ilona. Warum habt ihr diese Aufnahmen gemacht?«
»Nein, selbstverständlich kennst du diese Leute nicht«, sagte Lothar. »Nur die schöne, schöne Ilona. Die kennst du. Kennst sie sogar besser als viele andere. Kennst sie sogar besser als Hannes, dein Freund.«
Er wusste nicht, worauf Lothar hinauswollte. Er blickte hinüber zu dem Mann mit dem Schnauzbart und schaute anschließend auf den Gang, wo die Stahltür war. An ihr befand sich ein kleiner Spion mit einer Klappe davor. Er überlegte, ob jemand drinnen war. Ob sie jemanden verhaftet hatten. Er wollte raus aus diesem Büro, um jeden Preis. Er fühlte sich wie ein in die Enge gedrängtes Tier, das in Panik nach einem Fluchtweg sucht.
»Wollt ihr, dass ich nicht mehr zu solchen Versammlungen gehe?«, fragte er zögernd. »Kein Problem. Auf vielen bin ich gar nicht gewesen.«
Er starrte hinaus auf die Stahltür. Seine Angst war in diesem Augenblick stärker als alles andere. Er hatte sofort einen Rückzieher gemacht, hatte Besserung gelobt, auch wenn er nicht genau wusste, was er verbrochen hatte, was er tun konnte, um ihnen zu Gefallen zu sein. Er war bereit, alles zu tun, nur um aus diesem Büro herauszukommen.
»Nicht mehr hingehen?«, sagte der Schnauzbart. »Auf gar keinen Fall. Niemand verlangt von dir, damit aufzuhören. Ganz im Gegenteil. Wir hätten sehr gern, wenn du weitere solcher Treffen besuchst. Die müssen ja sehr interessant sein. Was bezweckt man mit diesen Treffen?«
»Nichts«, sagte er und spürte, wie schwierig es war, mutig zu sein. Das konnten sie ihm bestimmt ansehen. »Niemand bezweckt etwas damit. Wir reden über das Studium. Über Musik und Bücher und alles Mögliche.« Der Schnauzbart grinste. Der wusste wohl ganz genau, wie Angst aussah. Und seine Angst musste ihm ins Gesicht geschrieben stehen. Er war auch noch nie ein geschickter Lügner gewesen.
»Was hast du da über Hannes gesagt?«, fragte er zögernd, indem er zu Lothar hinüberblickte. »Dass ich Ilona besser als Hannes kenne? Was meinst du damit?«
»Hast du das nicht gewusst?«, sagte Lothar mit gespielter Verwunderung. »Die beiden waren zusammen, genau wie du und Ilona jetzt. Bevor du aufgetaucht bist. Hat sie dir nichts davon erzählt?« Er schwieg und starrte Lothar an.
»Warum sie dir wohl nichts davon erzählt hat?«, fuhr Lothar mit demselben scheinheiligen Tonfall der Verwunderung fort. »Sie scheint ganz besonders auf Isländer zu stehen. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, dass Hannes ihr nicht helfen konnte.«
»Helfen konnte?«
»Sie möchte irgendeinen von euch heiraten, um nach Island ausreisen zu können«, sagte Lothar. »Mit Hannes hat es nicht geklappt. Vielleicht kannst du ihr helfen. Sie wollte schon immer aus Ungarn raus. Hat sie dir das nie gesagt? Sie hat große Anstrengungen unternommen, um rauszukommen.«
»Nimm Platz«, sagte der Schnauzbärtige und steckte sich die nächste Zigarette an.
»Ich habe eigentlich gar keine Zeit«, sagte er und versuchte, sich einen Ruck zu geben. »Ich muss weiter. Vielen Dank, dass ihr mir das gesagt habt. Wir sprechen uns später, Lothar.«
Er ging zögernd ein paar Schritte zur Tür. Der Mann mit dem Schnauzbart wechselte einen Blick mit Lothar, der mit den Achseln zuckte.