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»Setz dich, du dämlicher Idiot!«, brüllte der Mann und sprang hoch.

Er blieb in der Tür stehen, als hätte er einen Schlag bekommen, und drehte sich um.

»Wir dulden keine antikommunistische Unterwanderung«, brüllte der Schnauzbärtige ihn an. »Und erst recht nicht von irgendwelchen verfluchten Ausländern, die unter falscher Flagge segeln, um hier zu studieren, so wie du. Setz dich, du verdammter Idiot! Mach die Tür zu und setz dich!«

Er schloss die Tür, ging zum Schreibtisch und setzte sich auf einen Stuhl, der davor stand.

»Jetzt hast du ihn wütend gemacht«, sagte Lothar kopfschüttelnd.

Er sehnte sich danach, nach Island zurückzukehren und alles zu vergessen. Er beneidete Hannes darum, diesem Albtraum entronnen zu sein. Das war das Erste, was er dachte, als sie ihm endlich gestatteten, zu gehen. Sie hatten ihm verboten, das Land zu verlassen. Er musste noch am gleichen Tag seinen Pass abliefern. Dann dachte er an Ilona. Er wusste, dass er sie nie verlassen könnte, und als die Angst sich etwas gelegt hatte, wollte er das auch nicht.

Er war nicht imstande, Ilona zu verlassen. Mit Ilona hatten sie ihn unter Druck gesetzt und ihm gedroht. Falls er nicht nach ihrer Pfeife tanzte, könnte ihr etwas zustoßen. Die Drohung war eindeutig genug, obwohl sie nicht konkret ausgesprochen worden war. Falls er ihr sagen würde, was zwischen ihnen besprochen worden war, könnte ihr etwas zustoßen. Sie sagten nicht, was. Die Drohung schwebte in der Luft, damit er sich das Schlimmste ausmalte.

Es war, als hätten sie ihn lange im Visier gehabt. Sie wussten präzise, was sie vorhatten und was sie von ihm wollten.

Da wurden keine spontanen Entscheidungen getroffen. Er sollte ihr Informant an der Universität werden. Er sollte ihnen Bericht erstatten, sollte gesellschaftsfeindliche Aktivitäten observieren und seine Kommilitonen denunzieren. Er wusste, dass er ab jetzt unter Beobachtung stehen würde, das hatten sie ihm klar gemacht. Am meisten interessierte sie das, was Ilona und ihre Leute in Leipzig und an vielen anderen Orten in der DDR trieben. Sie wollten wissen, was auf diesen Versammlungen geredet wurde.

Wer die Rädelsführer waren. Was für Gedankengut hier verbreitet wurde. Ob es Verbindungen zu Ungarn oder anderen osteuropäischen Ländern gab. Wie verbreitet der Widerstand war. Was über Ulbricht und die SED gesagt wurde. Sie zählten noch weitere Punkte auf, aber er hatte schon längst aufgehört, ihnen zuzuhören. Ihm schwirrte der Kopf.

»Was ist, wenn ich mich weigere?«, fragte er auf Isländisch.

»Hier wird Deutsch gesprochen!«, befahl der Schnauzbärtige wütend.

»Du weigerst dich nicht«, sagte Lothar.

Der Mann klärte ihn darüber auf, was passieren würde, wenn er sich weigerte. Er würde nicht abgeschoben. Er würde nicht so billig davonkommen wie Hannes. Er war ihnen im Grunde genommen völlig egal. Falls er nicht genau das tat, was sie von ihm verlangten, würde er Ilona verlieren.

»Aber wenn ich alles an euch weitertrage, habe ich sie sowieso verloren«, sagte er.

»Nicht so, wie wir das arrangiert haben«, sagte der Mann mit dem buschigen Schnauzbart und zündete mit einer Zigarette die nächste Zigarette an.

Nicht so, wie wir das arrangiert haben.

Dieser Satz begleitete ihn aus der Stasizentrale und hämmerte ihm die gesamte Strecke vom Dittrichplatz bis nach Hause im Kopf.

Nicht so, wie wir das arrangiert haben.

Er hatte Lothar angestarrt. Sie hatten etwas für Ilona arrangiert. Jetzt schon. Es wartete nur darauf, ausgeführt zu werden. Falls er nicht das tat, was sie ihm sagten.

»Was bist du eigentlich?«, fragte er Lothar noch und erhob sich langsam und zögernd von seinem Stuhl.

»Setzen!«, brüllte der Schnauzbart und stand selbst auf.

Lothar schaute ihn an, und ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen.

»Wie kann man nur so ein Mensch sein?« Lothar gab ihm keine Antwort darauf.

»Und was ist, wenn ich Ilona davon erzähle?«

»Das solltest du lieber nicht tun«, sagte Lothar. »Aber jetzt sag mir mal, wie es ihr gelungen ist, dich rumzukriegen. Unseren Informationen zufolge gab es kaum einen überzeugteren Kommunisten als dich. Was ist passiert? Wie hat sie es geschafft, dich rumzukriegen?« Er ging auf Lothar zu und sammelte Mut, um ihm das zu sagen, was er sagen wollte. Der Schnauzbart war hinter seinem Schreibtisch hervorgetreten und stand hinter ihm.

»Nicht sie war es, die das bewirkt hat«, sagte er auf Isländisch. »Du warst es. Das, wofür du stehst, hat mich auf einen anderen Kurs gebracht. Die Menschenverachtung.

Der Hass. Die Machtgier. All das, was du bist, hat mich rumgekriegt.«

»Es ist doch so einfach«, sagte Lothar, »entweder ist man ein Sozialist, oder man ist keiner.«

»Nein«, sagte er, »das begreifst du nicht, Lothar. Entweder ist man ein Mensch, oder man ist keiner.« Er eilte im Laufschritt nach Hause und dachte die ganze Zeit an Ilona. Er musste ihr sagen, was geschehen war, egal, was sie von ihm verlangten und was sie arrangiert hatten.

Sie musste die Stadt verlassen. Vielleicht würden sie zusammen nach Island gehen können. Auf einmal kam es ihm so vor, als sei Island unendlich weit weg. Vielleicht könnte sie von Ungarn aus nach Island fahren. Oder vielleicht nach Westdeutschland gehen. In Berlin über die Grenze. Die Kontrollen waren nicht so streng. Er würde ihnen alles sagen, was sie hören wollten, aber in der Zwischenzeit musste Ilona ihre Flucht vorbereiten. Sie musste aus diesem Land heraus.

Was sollten diese Andeutungen in Bezug auf Hannes? Was hatte Lothar über Ilona und Hannes gesagt? Waren sie ein Paar gewesen? Das hatte Ilona ihm nie gesagt. Nur, dass sie Freunde gewesen waren und sich auf diesen Geheimversammlungen kennen gelernt hatten. Konnte es sein, dass Lothar versuchte, ihn damit zu verunsichern? Oder wollte Ilona ihn benutzen, um in den Westen zu gelangen? Zum Schluss rannte er. Menschliche Wesen sausten an ihm vorbei, ohne dass er sie wahrnahm. Wie benommen überquerte er eine Straße nach der anderen, und wirre Gedankenfetzen und Bilder schossen ihm durch den Kopf, Gedanken über Ilona, über sich selbst, über Lothar und die Stasi und die Stahltür mit dem Spion. Über den Mann mit dem Schnauzbart. Ihm gegenüber würde man keine Nachsicht zeigen, so viel wusste er. Isländer oder nicht Isländer, das spielte für diese Leute keine Rolle. Isländer konnten genauso gut wie andere einfach verschwinden. Sie wollten, dass er für sie spionierte. Ihnen Berichte ablieferte über das, was auf Ilonas Geheimversammlungen diskutiert wurde.

Berichte über das, was ihm in der Universität zu Ohren kam, was die Isländer unter sich redeten und die anderen Ausländer dachten. Sie wussten, dass sie ihn in die Enge getrieben hatten. Und falls er sich weigerte, würde er nicht so glimpflich davonkommen wie Hannes.

Sie hatten Ilona.

Er war den Tränen nahe, als er endlich nach Hause kam und Ilona stumm umarmte. Sie hatte sich Sorgen gemacht und sagte, dass sie lange bei der Thomaskirche auf ihn gewartet hätte, aber als er nicht auftauchte, sei sie nach Hause gegangen. Er berichtete ihr von dem, was passiert war, obwohl ihm eingeschärft worden war, dass er ihr nichts sagen durfte. Ilona lauschte seinen Worten schweigend, und als er geendet hatte, begann sie, ihn nach Einzelheiten auszufragen. Er antwortete so präzise wie möglich. Ihre erste Frage galt den Leipzigern, ihren Freunden, ob man alle auf den Fotos erkennen könne. Er sagte, dass seiner Meinung nach die Stasi über jeden Einzelnen von ihnen Bescheid wusste.

»Großer Gott«, stöhnte Ilona, »wir müssen sie warnen. Wie haben sie das herausgekriegt? Sie müssen uns beschattet haben. Irgendjemand hat uns verraten, jemand, der von diesen Treffen gewusst hat. Wer? Wer hat uns verraten? Wir sind so vorsichtig vorgegangen. Niemand wusste von diesen Versammlungen.«

»Ich weiß es nicht«, sagte er.