»Ich muss mich mit ihnen in Verbindung setzen«, sagte sie, während sie in dem kleinen Zimmer auf und ab ging. Sie blieb am Fenster stehen und spähte auf die Straße. »Beschatten sie uns wirklich?«, fragte sie. »Jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
»Großer Gott«, stöhnte Ilona noch einmal.
»Sie haben gesagt, dass Hannes und du … dass ihr zusammen gewesen seid«, sagte er. »Lothar hat das gesagt.«
»Das ist gelogen«, sagte sie. »Alles, was sie sagen, ist gelogen. Das müsstest du doch wissen. Sie spielen mit dir Katz und Maus, mit uns beiden. Wir müssen eine Entscheidung treffen, was jetzt zu tun ist. Ich muss diese Leute warnen.«
»Sie haben gesagt, dass du dich an die Isländer hältst, um in den Westen zu kommen, um nach Island zu kommen.«
»Tómas, natürlich sagen sie so etwas. Was sollten sie denn sonst sagen? Hör auf mit diesem Unsinn.«
»Sie haben verlangt, dass ich dir nichts davon sage, deswegen müssen wir schrecklich vorsichtig sein«, sagte er.
Er wusste, dass sie Recht hatte. Alles, was sie sagten, war gelogen. Alles. »Du bist in großer Gefahr«, sagte er, »das haben sie mir zu verstehen gegeben. Wir dürfen keine Fehler machen.«
Sie schauten sich verzweifelt an.
»In was sind wir da hineingeraten?«, stöhnte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie und umarmte ihn. Sie schien sich dabei etwas zu beruhigen.
»Sie wollen hier kein zweites Ungarn. Da sind wir hineingeraten.«
Drei Tage später verschwand Ilona spurlos.
Karl war bei ihr, als sie anrückten und Ilona festnahmen, und er rannte anschließend die ganze Strecke bis zur Universität, um ihm Bescheid zu sagen. Karl war gekommen, um ein Buch bei ihr abzuholen, das sie ihm ausleihen wollte. Urplötzlich erschienen die Vopos. Er selber wurde an die Wand gedrückt. Das Zimmer wurde auf den Kopf gestellt. Ilona wurde abgeführt.
Karl berichtete immer noch, als er schon loslief. Sie hatten sich so in Acht genommen. Ilona hatte ihre Freunde benachrichtigt, und sie hatten Vorbereitungen getroffen, Leipzig zu verlassen. Sie wollte zurück nach Ungarn, um bei ihrer Familie zu sein, und er beabsichtigte, zunächst nach Island zu fahren und später nach Budapest zu kommen. Das Studium spielte keine Rolle mehr, es ging nur noch um Ilona.
Seine Lungen waren dem Platzen nah, als er nach Hause kam. Die Haustür stand offen, und er rannte in die Wohnung und zu ihrem Zimmer, wo ein heilloses Chaos herrschte. Bücher, Zeitschriften, Decken lagen wild durcheinander auf dem Fußboden, der Schreibtisch war umgekippt worden, und das Bett lag auf der Seite. Nichts war verschont geblieben, einiges kaputtgegangen. Er trat gegen die Schreibmaschine, die auf den Boden gefallen war.
Dann rannte er wieder los, diesmal in Richtung Stasizentrale. Als er dort eintraf, fiel ihm plötzlich ein, dass er nicht einmal wusste, wie der Mann mit dem Schnauzbart hieß, und im Anmelderaum wollte ihn niemand verstehen. Er bat darum, in den Gang gehen und den Mann selbst suchen zu dürfen, doch der Stasibeamte schüttelte den Kopf.
Er warf sich gegen die Tür, die zu diesem Korridor führte, aber sie war verschlossen. Er schrie nach Lothar. Der Mann in der Anmeldung war hinter dem Tisch hervorgetreten. Er hatte um Verstärkung gebeten, und drei Männer tauchten auf, die ihn von der Tür wegzogen. Im gleichen Augenblick öffnete sie sich, und der Schnauzbart betrat den Anmelderaum.
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, brüllte er den Mann an.
»Lasst mich zu ihr!« Und er schrie in den Gang hinein: »Ilona! Ilona!«
Der Schnauzbart warf die Tür hinter sich ins Schloss und bellte den anderen Männern Befehle zu. Sie packten ihn und setzten ihn auf die Straße. Er hämmerte gegen die schwere Außentür und rief nach Ilona, aber es führte zu nichts. Er war seiner Sinne nicht mehr mächtig. Er war überzeugt davon, dass sie Ilona in diesem Gebäude festhielten. Er musste sie sehen, er musste ihr zu Hilfe kommen, er musste sie da herausholen. Er war bereit, alles dafür zu tun. Seine Verzweiflung war grenzenlos.
Da fiel ihm auf einmal ein, dass er frühmorgens Lothar in der Universität begegnet war. Er rannte los. Er erwischte eine Straßenbahn, die in Richtung Universität fuhr. Vor der Universität sprang er während der Fahrt ab, suchte nach Lothar und fand ihn schließlich ganz allein an einem Tisch in der Kaffeestube. Nur wenige Leute waren dort, und er setzte sich keuchend und schnaufend zu Lothar an den Tisch, das Gesicht feuerrot vor Anstrengung, Sorge und Angst.
»Stimmt was nicht?«, fragte Lothar.
»Ich tu alles für dich, für euch, wenn ihr sie freilasst.« Lothar schaute ihn lange an und schien mit wissenschaftlichem Interesse seine Qualen zu studieren.
»Wer ist diese Sie?«, fragte er dann.
»Ilona, du weißt ganz genau, von wem ich spreche. Ich tu alles, was ihr wollt, wenn ihr sie freilasst.«
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wovon du redest«, sagte Lothar.
»Ihr habt heute Mittag Ilona verhaftet.«
»Wir?«, fragte Lothar. »Wer sind denn ›wir‹?«
»Die Stasi«, sagte er. »Ilona ist verhaftet worden. Karl war bei ihr, als sie gekommen sind. Kannst du nicht mit ihnen reden? Kannst du ihnen nicht sagen, dass ich alles, alles für sie mache, wenn sie Ilona freilassen?«
»Ich denke eher, dass du jetzt völlig uninteressant für sie bist«, sagte Lothar.
»Hilf mir doch«, sagte er. »Kannst du nicht mit denen reden?«
»Wenn sie festgenommen worden ist, kann ich leider gar nichts mehr tun. Dann ist es zu spät. Leider.«
»Was kann ich tun?«, sagte er mit tränenerstickter Stimme.
»Sag mir doch, was ich tun kann.« Lothar betrachtete ihn lange.
»Geh nach Hause«, sagte er, »geh in die Poechestraße und hoff das Beste.«
»Was bist du bloß für ein Mensch?«, sagte er und spürte, wie der Zorn wieder in ihm hochstieg. »Was bist du für ein teuflischer Mensch? Was bringt dich dazu, dich wie ein Scheusal zu verhalten, was ist das eigentlich? Woher kommen diese Machtgier und die Menschenverachtung, die Bösartigkeit und Niedertracht?«
Lothar blickte sich um und sah nur ein paar Gestalten, die an den anderen Tischen saßen. Dann lächelte er.
»Leute, die mit dem Feuer spielen, können sich verbrennen, aber sie sind immer wieder gleichermaßen erstaunt, wenn es passiert. Immer sind sie verflucht unschuldig und erstaunt, wenn sie sich verbrennen.« Lothar stand auf und beugte sich zu ihm hinunter.
»Geh nach Hause«, sagte er. »Hoff das Beste. Ich werde mit ihnen reden, aber ich kann nichts versprechen.« Dann schlenderte Lothar so gelassen zum Ausgang, als ginge ihn nichts von alledem etwas an. Er blieb zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Seine Gedanken waren unablässig bei Ilona; in seiner Verzweiflung begann er, sich harmlose Szenarien und Erklärungen einzureden. Dass sie nur zur Vernehmung abgeführt worden war und bald wieder freigelassen würde. Vielleicht ging es jetzt darum, ihr Angst zu machen, genau wie sie ihm vor einigen Tagen Angst gemacht hatten. Sie machten sich die Angst der Menschen zunutze. Vielleicht war sie sogar schon wieder zu Hause. Er stand auf und verließ die Kaffeestube.
Als er hinaustrat, schaute er sich um und fand es seltsam, dass alles genau wie immer zu sein schien. Die Leute benahmen sich wie sonst — als ob nichts passiert wäre. Sie hasteten über die Bürgersteige oder standen zusammen und hielten ein Schwätzchen. Seine Welt war zusammengebrochen, aber alles war wie gehabt, alles schien in Ordnung zu sein. Er wollte nach Hause und dort auf sie warten.
Vielleicht war sie sogar schon zu Hause. Vielleicht würde sie etwas später kommen. Sie musste einfach wiederkommen.
Aus welchem Grund konnten sie sie festhalten? Weil sie sich mit Leuten getroffen und mit ihnen geredet hatte? Auf dem Weg nach Hause wusste er nicht, wo ihm der Kopf stand, er war wie von Sinnen. Es war erst so kurz her, dass sie dicht beieinander lagen und sie ihm sagte, dass es jetzt sicher sei, was sie seit einiger Zeit vermutet hatte.