Sie flüsterte es ihm ins Ohr. Wahrscheinlich war es gegen Ende des Sommers geschehen.
Er lag wie gelähmt da und starrte zur Decke, weil er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Aber dann umarmte er sie und sagte, dass er sein ganzes Leben mit ihr verbringen wollte.
»Mit uns beiden«, flüsterte sie.
»Ja, mit euch beiden«, sagte er und legte den Kopf auf ihren Bauch.
Er kam wieder zu sich, als seine Hand zu schmerzen begann. Wenn er an die damaligen Ereignisse zurückdachte, ballte er oft unwillkürlich die Faust, bis sie zu schmerzen anfing. Die Muskeln entkrampften sich, er saß auf seinem Sessel und dachte wie immer darüber nach, ob er es hätte verhindern können. Ob er etwas anderes hätte tun können.
Etwas, das den Lauf der Dinge beeinflusst hätte. Er kam nie zu einem Ergebnis.
Steif erhob er sich aus dem Sessel und ging zur Kellertür.
Er öffnete sie und schaltete das Treppenlicht ein, bevor er vorsichtig nach unten stieg. Die Treppe war ausgetreten, und die Stufen waren glatt. Er betrat den geräumigen Keller und machte Licht. Hier hatte sich im Laufe der Jahre viel angesammelt. Das schien unvermeidlich zu sein, denn er warf kaum etwas weg. Trotzdem herrschte kein Durcheinander, er war schon immer ein ordnungsliebender Mensch gewesen. Alles hatte seinen Platz, und alles, was er aufbewahrte oder verwendete, war an Ort und Stelle.
An der einen Wand befand sich ein Werktisch. Hin und wieder schnitzte er kleine Gegenstände aus Holz und bemalte sie. Das war sein einziges Hobby. Sich einen kantigen Holzklotz vorzunehmen und daraus etwas Lebendiges und Schönes zu schaffen. Einige Tierfiguren hatte er oben in seiner Wohnung, und zwar die, die er selber für gelungen hielt. Je kleiner sie waren, desto mehr Ehrgeiz legte er hinein. Es war ihm beispielsweise gelungen, einen Islandhund mit buschigem Schwanz und spitzen Ohren zu schnitzen, der kaum größer als ein Fingerhut war.
Er hockte sich vor den Arbeitstisch und öffnete den Kasten, den er darunter aufbewahrte. Seine Hand umschloss den Pistolengriff, und er zog die Waffe heraus. Wie immer fühlte sich der Stahl kalt an. Manchmal führten ihn seine Erinnerungen in den Keller, um die Waffe in die Hand zu nehmen oder auch nur, um sich zu vergewissern, dass sie noch an Ort und Stelle war.
Er bereute nichts von dem, was sich viele Jahre später ereignet hatte. Lange nachdem er aus der DDR zurückgekehrt war.
Lange nachdem Ilona spurlos verschwand.
Er würde es nie bereuen.
Dreiundzwanzig
Die deutsche Botschafterin in Reykjavik, Frau Dr. Elisabeth Müller, eine imposante Persönlichkeit knapp über sechzig, nahm sie gegen Mittag persönlich in ihrem Büro in Empfang. Sie warf Sigurður Óli wohlgefällige Blicke zu. Für Erlendur in seiner braunen Strickweste unter dem abgewetzten Jackett schien sie kaum Interesse aufzubringen. Den Doktortitel hatte sie sich als Historikerin erworben. Man hatte Gebäck aus Deutschland und Kaffee für sie bereitgestellt. Sie nahmen auf der eleganten Sofagarnitur Platz, und Sigurður Óli bat um Kaffee. Er wollte nicht unhöflich sein. Erlendur lehnte dankend ab. Am liebsten hätte er sich eine Zigarette angezündet, aber er konnte sich nicht zu der Frage durchringen, ob es gestattet sei.
Es wurden einige höfliche Worte gewechselt, und sie entschuldigten sich, der Botschaft solche Umstände gemacht zu haben, worauf sie ihnen versicherte, dass es eine Selbstverständlichkeit sei, die isländischen Behörden zu unterstützen.
Die Anfrage in Bezug auf Lothar Weiser sei auf dem Dienstweg weitergeleitet worden, erklärte Elisabeth Müller ihnen, oder vielmehr Sigurður Óli, denn sie richtete das Wort nahezu ausschließlich an ihn. Es wurde Englisch gesprochen. Sie bestätigte, dass ein Mann dieses Namens in den sechziger Jahren in der Handelsmission der ehemaligen DDR tätig gewesen war. Es sei außerordentlich schwierig gewesen, an Informationen über ihn heranzukommen, da er zu jener Zeit dem Staatssicherheitsdienst in der DDR angehörte, der engste Verbindungen zum sowjetischen Geheimdienst gehabt habe. Sie teilte ihnen mit, dass ein bedeutender Teil der diesbezüglichen Akten nach dem Fall der Mauer zerstört worden sei und dass die wenigen Informationen, die ihnen zur Verfügung standen, größtenteils vom Bundesnachrichtendienst stammten.
»Er ist 1968 in Island spurlos verschwunden«, sagte Frau Dr. Müller. »Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Seinerzeit vermutete man, dass er höchstwahrscheinlich irgendeinen fatalen Fehler begangen hat und …« Frau Dr. Müller verstummte und zuckte die Achseln.
»… abgemurkst worden ist«, beendete Erlendur den Satz.
»Das ist vielleicht eine Möglichkeit, aber dafür haben wir bislang noch keinen Beweis. Ebenso gut könnte es sein, dass er seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat und die Leiche mit dem diplomatischen Kurier entsorgt worden ist.«
Sie schenkte Sigurður Óli ein Lächeln, als wolle sie sagen, dass dies ihre Art von Humor sei.
»Ich weiß, dass es für Sie vermutlich komisch und absurd klingt«, fuhr sie fort, »aber für Angehörige des diplomatischen Korps liegt Island am Ende der Welt. Das Wetter ist der reinste Horror. Ewig dieser Sturm und dann die Dunkelheit und die Kälte. Im diplomatischen Dienst kommt es praktisch einer Strafversetzung gleich, wenn man nach Reykjavik geschickt wird.«
»Wurde dieser Mann also wegen irgendetwas strafversetzt, als man ihn nach Island schickte?«, erkundigte sich Sigurður Óli.
»Soweit uns bekannt ist, hat er für den Staatssicherheitsdienst der DDR gearbeitet, und er lebte in jüngeren Jahren lange in Leipzig.« Sie blätterte die Papiere durch, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »In den Jahren zwischen 1953 und 1957, vielleicht sogar bis 1958, hatte er den Auftrag, die ausländischen Studierenden an der Universität Leipzig, von denen die meisten, wenn nicht alle, Kommunisten waren und ein Stipendium erhielten, dazu zu bringen, für ihn zu arbeiten und andere zu denunzieren. Es ging letzten Endes nicht um Spionage, sondern eher darum, die ausländischen Studenten zu observieren.«
»Denunzieren?«, fragte Sigurður Óli.
»Ja, ich weiß nicht, wie Sie das nennen wollen«, sagte Frau Dr. Müller. »Seine Mitmenschen zu bespitzeln. Lothar Weiser stand in dem Ruf, besonders geschickt darin zu sein, junge Leute auf seine Seite zu ziehen. Er hatte einiges anzubieten, Geld beispielsweise oder gute Noten. Zu dieser Zeit war die Lage vor allem wegen der Entwicklungen in Ungarn sehr angespannt. Die jungen Menschen verfolgten durchaus mit, was dort vor sich ging, und die Stasi wiederum hatte die jungen Leute im Visier. Weiser schlich sich bei ihnen ein, und nicht nur er, sondern viele andere ebenfalls. Leute wie Weiser gab es an allen Universitäten der DDR — und generell in den kommunistischen Ländern.
Es ging darum, die Menschen zu überwachen, um genau zu wissen, was sie dachten. Der Einfluss von Ausländern konnte gefährlich sein, auch wenn die meisten wahrscheinlich sowohl das Studium als auch den Sozialismus ernst genommen haben.«
Erlendur warf ins Gespräch, dass Lothar Weiser ausgezeichnet Isländisch gesprochen habe.
»Gab es damals isländische Studenten in Leipzig?«, fragte er.
»Darüber habe ich leider keine Informationen«, entgegnete Frau Dr. Müller. »Das müssten Sie aber selbst herausbekommen können.«
»Aber was wurde später aus Lothar Weiser, nachdem er Leipzig verlassen hatte?«, fragte Sigurður Óli.
»Ihnen wird das alles sehr abwegig vorkommen«, entgegnete sie. »Geheimdienst und Spionage. Sie kennen so etwas hier auf Ihrem Eiland im Nordatlantik vermutlich nur vom Hörensagen.«
»Vermutlich«, erwiderte Erlendur lächelnd. »Ich kann mich nicht erinnern, dass wir hier einen einzigen richtigen Spion gehabt hätten.«
»Weiser nahm anschließend seine Tätigkeit im diplomatischen Dienst der DDR auf. Da war er nicht mehr bei der Stasi. Er ist in der ganzen Welt herumgekommen und hat bei den DDR-Vertretungen in allen möglichen Ländern gearbeitet. Unter anderem auch hier in Island. Er hatte aus irgendwelchen Gründen ein ganz besonderes Interesse an Island, das kann man schon daran ablesen, dass er in jungen Jahren Isländisch gelernt hat. Er war wohl so etwas wie ein Sprachgenie. Hier genau wie andernorts hatte er die Aufgabe, einheimische Informanten zu rekrutieren. Das war vergleichbar mit dem, was er früher in Leipzig gemacht hatte. Falls es an ideologischer Begeisterung mangelte, was nicht allzu selten der Fall war, konnte er Geld bieten.«