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»Sie war rothaarig«, sagte Sindri, »als wir klein waren. Sie hatte superschöne rote Haare, und Mama hat gemeint, das müsste aus deiner Familie kommen.«

»An die roten Haare kann ich mich erinnern«, sagte Erlendur.

»Mit zwölf Jahren hat sie sie abgeschnitten und schwarz gefärbt«, sagte Sindri, »und seitdem sind sie schwarz.«

»Warum hat sie das gemacht?«

»Ihr Verhältnis zu Mama war beschissen. Zu mir war Mama nie so wie zu Eva. Vielleicht, weil Eva die ältere war und Mama zu sehr an dich erinnert hat. Vielleicht, weil Eva immer Zoff gemacht hat. Sie war bestimmt hyperaktiv.

Rothaarig und hyperaktiv. Sie hat sich mit ihren Lehrern angelegt. Mama hat sie dann in eine andere Schule gesteckt, aber da wurde es nur noch schlimmer. Sie wurde geschnitten, weil sie neu war, und sie hat alles Mögliche angestellt, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und sie hat andere Kinder gemobbt, weil sie dachte, dass sie dann von der Gruppe akzeptiert würde. Mama musste zigtausend Mal wegen ihr in die Schule.« Sindri steckte sich eine Zigarette an.

»Sie hat nie geglaubt, was Mama über dich erzählt hat. Zumindest hat sie gesagt, dass sie es nicht glaubt. Deswegen haben die beiden sich oft gefetzt, und Eva ist es immer auf geniale Weise gelungen, Mama auf die Palme zu bringen, indem sie dich benutzte. Sie hat erklärt, dass sie es mehr als gut verstünde, dass du sie verlassen hast, weil man mit ihr einfach nicht zusammenleben könnte. Sie hat dich verteidigt.«

Sindri hielt die Zigarette in der Hand und schaute sich suchend um. Erlendur deutete auf den Aschenbecher auf dem Wohnzimmertisch. Sindri tat einen letzten Zug und setzte sich dann an den Tisch. Er hatte sich etwas beruhigt, und die Spannung zwischen ihnen nahm ab. Er erzählte Erlendur, wie Eva sich Geschichten über ihren Vater ausgedacht hatte, als sie in das Alter kam, wo sie etwas über ihren Vater wissen wollte.

Beide spürten sie die Hassgefühle ihrer Mutter Erlendur gegenüber, und Eva glaubte keineswegs alles, was sie sagte, und legte sich für jede Situation die passenden Vaterbilder zurecht, und die waren ganz anders als das Bild, das ihre Mutter ihnen vermittelte. Zwei Mal, im Alter von neun und von elf Jahren, war Eva von zu Hause weggelaufen, um ihren Vater zu suchen. Ihren Freundinnen schwindelte sie vor, dass ihr Papa, ihr richtiger Papa, nicht die Kerle, die sich bei ihrer Mutter einquartierten, immer im Ausland war. Jedes Mal, wenn er nach Hause käme, würde er ihr tolle Geschenke machen. Die könnte sie aber niemandem zeigen, weil ihr Papa nicht wollte, dass sie damit vor den anderen angab. Wieder anderen Mädchen erzählte sie, dass ihr Papa eine riesengroße Villa besäße und dass sie manchmal bei ihm übernachten durfte und alles bekam, was sie sich wünschte, weil er so reich war.

Mit zunehmendem Alter fielen die Geschichten wirklichkeitsnaher aus. Ihre Mutter hatte ihnen gegenüber einmal erwähnt, dass Erlendur ihres Wissens nach immer noch bei der Polizei war. In all den schwierigen Zeiten, die Eva jetzt durchlief, als sie mit dreizehn, vierzehn Jahren zu rauchen begann, Hasch probierte und Alkohol trank — die ganze Zeit wusste Eva immer von ihrem Vater irgendwo in der Stadt. Mit der Zeit war sie sich aber nicht mehr so sicher, ob sie ihn kennen lernen wollte.

»Vielleicht«, hatte sie zu Sindri gesagt, »vielleicht ist es einfach besser, ihn nur im Kopf zu haben.« Sie ging davon aus, dass sie mit ihm, genau wie mit allen anderen, bestimmt nur Enttäuschungen erleben würde.

»Da hat sie sicher Recht gehabt«, sagte Erlendur.

Er hatte sich in seinen Sessel gesetzt. Sindri kramte wieder die Zigarettenschachtel hervor.

»Sie war auch nicht gerade attraktiv, mit diesen ganzen Piercings oder wie das Zeugs heißt«, sagte Erlendur. »Sie kommt nicht aus den eingefahrenen Bahnen heraus. Sie hat nie Geld und macht sich immer an jemanden heran, der den Stoff entweder ins Land oder unter die Leute bringt, und an den hängt sie sich. Egal wie widerlich sie von denen behandelt wird, sie hält sich immer an solche Typen.«

»Ich will versuchen, mit ihr zu reden«, sagte Sindri. »Trotzdem denke ich aber, dass sie darauf wartet, dass du kommst und sie rettest. Ich hab das Gefühl, sie pfeift auf dem letzten Loch. Sie ist oft übel dran gewesen, aber so schlimm wie jetzt habe ich sie noch nie erlebt.«

»Warum hat sie sich die Haare abgeschnitten, als sie zwölf war?«, fragte Erlendur.

»Da war ein Kerl, der sich an sie rangemacht und ihr den Kopf getätschelt hat, und dabei hat er ihr obszöne Sachen gesagt«, erklärte Sindri.

Er warf das ganz lässig ins Gespräch, und es hatte ganz den Anschein, als könnte er noch jede Menge mehr ausgraben, wenn er in seiner Erinnerung kramte.

Sindris Blicke glitten an den Bücherregalen entlang. In der Wohnung gab es fast nichts außer Büchern.

Erlendur ließ sich keinerlei Reaktion anmerken, aber seine Augen waren kalt wie Marmor.

»Eva hat mir erzählt, du würdest dich dauernd mit solchen verschollenen Typen beschäftigen.«

»Ja«, sagte Erlendur.

»Machst du das wegen deinem Bruder?«

»Vielleicht. Wahrscheinlich sogar.«

»Eva hat auch gesagt, dass du gesagt hast, du seist der verschollene Typ in ihrem Leben.«

»Ja. Auch wenn Leute verschollen sind, müssen sie nicht unbedingt tot sein«, sagte Erlendur und sah vor seinem inneren Auge einen schwarzen Ford Falcon am Busbahnhof in Reykjavik, an dem eine Radkappe fehlte.

Sindri übernachtete nicht bei Erlendur, der ihm das Sofa im Wohnzimmer anbot. Sindri lehnte aber dankend ab und verabschiedete sich. Nachdem sein Sohn gegangen war, saß Erlendur noch lange im Sessel, während ihm wirre Gedanken durch den Kopf gingen, Gedanken an seinen Bruder und an Eva Lind, an das Wenige, woran er sich erinnern konnte, aus der Zeit, als sie klein war. Sie war zwei Jahre alt, als er sich scheiden ließ. Die Geschichten, die Sindri über Evas Jugend erzählt hatte, hatten eine empfindliche Saite in ihm angerührt, und er sah das, was zwischen ihnen vorgefallen war, in einem anderen und noch trostloseren Licht als zuvor.

Als er kurz vor Mitternacht ins Bett ging und einschlief, kreisten seine Gedanken immer noch um seinen Bruder, um Eva Lind und um Sindri, und er hatte einen sonderbaren Traum. Sie machten zu dritt einen Ausflug mit dem Auto, er und seine Kinder. Die beiden saßen hinten, er war am Steuer und wusste nicht, wo er sich befand, denn draußen war das Licht so grell, dass er keine Landschaft erkennen konnte. Trotzdem kam es ihm so vor, als sei das Auto in Bewegung, und er musste sehr viel vorsichtiger als normalerweise steuern, weil er fast völlig geblendet war. Als er in den Rückspiegel blickte, konnte er die Gesichter seiner Kinder nicht erkennen. Er glaubte zu sehen, dass es Eva und Sindri waren, aber die Gesichter waren irgendwie undeutlich und verschwommen. Er kam aber zu dem Schluss, dass es wohl kaum andere Kinder sein konnten. Eva schien ungefähr vier Jahre alt zu sein. Er sah, dass sie sich an der Hand hielten.

Das Radio lief und eine betörende weibliche Stimme sang: Ich weiß, du kommst heut’ Nacht zu mir.

Urplötzlich sah er einen riesigen Lastwagen auf sich zukommen. Er versuchte, zu hupen und zu bremsen, aber nichts geschah. Als er in den Rückspiegel schaute, waren seine Kinder verschwunden, und er verspürte unsägliche Erleichterung. Er blickte nach vorn auf die Straße. Er näherte sich dem Lastwagen mit Furcht erregender Geschwindigkeit, und ein Zusammenstoß schien unvermeidlich.

Als alles aussichtslos zu sein schien, spürte er eine seltsame Nähe neben sich. Er schaute zum Beifahrersitz, dort saß jetzt Eva Lind und lächelte ihn an. Sie war aber kein kleines Mädchen mehr, sondern sie war erwachsen und sah entsetzlich aus in ihrem abgerissenen blauen Anorak, mit verfilzten dreckigen Haaren, Ringen unter den Augen, hohlen Wangen und schwarzen Lippen. Als ihr Lächeln breiter wurde, sah er Zahnlücken.