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Er wollte ihr etwas sagen, brachte aber nichts heraus. Am liebsten hätte er ihr zugebrüllt, sie solle aus dem Auto springen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es diese Ruhe, die von ihr ausging. Sie war vollkommen gelassen. Sie wandte ihren Blick von ihm ab, sah den Lastwagen und fing an zu lachen.

Im letzten Augenblick vor dem Aufprall wachte er auf und schrie den Namen seiner Tochter. Er setzte sich auf und brauchte einige Zeit, um sich zurechtzufinden. Als er den Kopf wieder auf das Kissen legte, drang ein seltsam trauriges Lied an ihn heran, das ihn in einen traumlosen Schlaf geleitete.

Ich weiß, du kommst heut’ Nacht zu mir …

Fünfundzwanzig

Níels konnte sich kaum an Haraldurs Bruder Jóhann erinnern. Er begriff nicht, wieso Erlendur sich darüber aufregte, dass in den Berichten kein Wort über den Bruder stand.

Níels telefonierte gerade, als Erlendur zu ihm ins Büro kam.

Er sprach mit seiner Tochter, die Medizin studiert hatte und in den USA eine Spezialausbildung als Kinderärztin machte, wie Níels ihm selbstgefällig verkündete, nachdem er aufgelegt hatte. So als hätte er noch nie jemandem davon erzählt, obwohl er im Grunde genommen kaum über etwas anderes sprach. Erlendur war es so egal wie nur irgendwas.

Níels ging bald in Pension und befasste sich jetzt fast nur noch mit unbedeutenden Delikten, Autodiebstählen und kleineren Einbrüchen. Seine Standardaussage den Betroffenen gegenüber war, dass es am besten sei, das Ganze zu vergessen, Anzeige zu erstatten sei die reinste Zeitverschwendung. Wenn man die Täter überführen könnte, würde selbstverständlich ein Protokoll angefertigt, aber das brächte rein gar nichts. Die Straftäter würden gleich nach der Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt, und es käme gar nicht erst zu einer Gerichtsverhandlung. Und falls es sich zufälligerweise so träfe, dass sich genügend Straftaten angesammelt hätten und die Betreffenden doch vor Gericht gestellt würden, fiele das Urteil absolut lächerlich aus und sei im Grunde genommen eine Beleidigung für diejenigen, die ihnen zum Opfer gefallen waren.

»Kannst du dich an diesen Jóhann erinnern?«, fragte Erlendur. »Hast du ihn getroffen? Bist du damals zum Hof der Brüder in Mosfellssveit gefahren?«

»Solltest du dich nicht lieber mit diesem russischen Apparat befassen?«, fragte Níels, zog eine Nagelschere aus der Westentasche und begann, sich die Fingernägel zu schneiden. Er blickte auf die Uhr. Eine lange und gemütliche Mittagspause stand bevor.

»Doch«, sagte Erlendur, »da gibt es genug zu tun.«

Níels unterbrach die Schnippelei. Da war so ein Unterton, der ihm nicht gefiel.

»Dieser Jóhann beziehungsweise Jói, wie sein Bruder ihn nannte, war irgendwie komisch«, sagte Níels. »Er war ein einfältiger Depp, früher hätte man ihn einen armen Tropf genannt. Bevor die Hüter der Wörter die Sprache mit ihren offiziellen Sprachregelungen glatt gebügelt haben.«

»Was für ein armer Tropf?«, fragte Erlendur. Er war der gleichen Ansicht wie Níels, was die Sprache betraf. Sie war aus lauter Rücksichtnahme auf alle möglichen Gesellschaftsgruppen völlig kastriert worden.

»Er hatte sie nicht alle«, sagte Níels, der weiter an seinen Nägeln herumschnitt. »Ich bin zweimal zu ihnen rausgefahren und habe mit den Brüdern gesprochen. Der Ältere hat die ganze Zeit das Wort geführt. Dieser Jóhann hat kaum etwas gesagt. Sie waren sich nicht sehr ähnlich, diese Brüder. Der eine war nur Haut und Knochen, und der andere war kräftig gebaut und wohlgenährt, aber er hatte diesen kindlichen, schafsdummen Ausdruck im Gesicht.«

»Ich weiß nicht so recht, wie ich diesen Jóhann einordnen soll«, sagte Erlendur. »Was meinst du damit, wenn du sagst, er hätte sie nicht alle gehabt?«

»Ich kann mich nicht so genau daran erinnern, Erlendur. Er klebte irgendwie immer an seinem Bruder, wie ein kleines Kind, und er hat andauernd gefragt, wer wir seien. Er konnte auch kaum richtig sprechen, es war eher ein Stammeln.

Er war genau so, wie man sich einen hinterwäldlerischen Bauerndepp in einer gottverlassenen Gegend vorstellt, mit zwei Daumen am Handschuh und einer albernen Mütze auf dem Kopf.«

»Und Haraldur ist es gelungen, dich davon zu überzeugen, dass Leopold nie bei den Brüdern aufgetaucht ist?«

»Er brauchte mich nicht zu überzeugen«, sagte Níels. »Wir haben das Auto am Busbahnhof gefunden. Nichts deutete darauf hin, dass er bei den Brüdern gewesen war. Wir hatten nichts an der Hand, genauso wenig wie du.«

»Du glaubst nicht, dass die Brüder ihn dorthin gebracht haben?«

»Wir hatten nicht den geringsten Anlass, das zu glauben«, sagte Níels. »Du kennst dich doch aus mit diesen Vermisstenfällen. Mit den Informationen, die uns zur Verfügung standen, hättest du auch nicht anderes gehandelt.«

»Ich habe den Falcon aufgetan«, sagte Erlendur. »Ich weiß, dass es viele Jahre her ist und der Wagen sicherlich ziemlich viel herumgekommen ist, aber die von der Spurensicherung haben etwas darin gefunden, das Kuhscheiße sein könnte. Ich frage mich, ob man, wenn du den Fall gründlich angegangen wärst, den Mann hätte finden und die Frau beruhigen können, die auf ihn wartete und seitdem auf ihn wartet.«

»Was für einen hirnrissigen Schmarren erzählst du da eigentlich«, stöhnte Níels und blickte von seinen Nägeln hoch. »Wie kommst du bloß auf so einen Quatsch? Selbst wenn du dreißig Jahre später irgendwelche Scheiße in dem Auto findest. Tickst du noch ganz richtig?«

»Du hättest damals etwas Handfestes finden können«, beharrte Erlendur.

»Du mit deinen verschollenen Typen«, sagte Níels. »Wieso befasst du dich eigentlich jetzt wieder mit diesem Fall? Wer hat dich damit beauftragt? Und ist es überhaupt ein Fall? Wer behauptet das? Weshalb rollst du einen dreißig Jahre alten Fall wieder auf, der gar kein Fall war und aus dem sowieso niemand schlau wird? Warum musst du auf Teufel komm raus die ganze Geschichte wieder hervorkramen? Hast du der Frau irgendwelche Hoffnungen gemacht? Gibst du ihr zu verstehen, dass du ihn finden kannst?«

»Nein«, sagte Erlendur.

»Du bist nicht ganz dicht«, sagte Níels, »das habe ich schon immer gesagt, gleich nachdem du hier angefangen hast.

Das habe ich Marian Briem auch gesagt. Ich habe keine Ahnung, was Marian an dir gefunden hat.«

»Ich würde am liebsten da auf dem Hof nach ihm suchen lassen«, sagte Erlendur.

»Auf dem Hof nach ihm suchen?«, rief Níels wie vom Donner gerührt. »Bist du völlig übergeschnappt? Und wo? Wo willst du genau nach ihm suchen lassen?«

»Rings um die Gebäude«, sagte Erlendur genauso gelassen wie immer. »Und dann sind da unterhalb der Hügel Gräben und sumpfiges Gelände bis hinunter zum Meer. Ich würde gern wissen, ob man da nicht fündig wird.«

»Was für einen Anlass hast du dafür?«, fragte Níels. »Hast du ein Geständnis? Gibt es neue Aspekte? Nein, nichts außer Scheiße in einer alten Klapperkiste!« Erlendur stand auf.

»Ich möchte dir nur sagen, dass ich dich, falls du vorhast, jetzt irgendeinen Aufstand wegen der Sache zu machen, darauf hinweisen muss, wie schlampig die damalige Untersuchung durchgeführt worden ist. Das Ganze ist löcheriger als …«

»Mach doch, was du willst«, fiel Níels ihm ins Wort und starrte ihn hasserfüllt an. »Von mir aus kannst du dich gern zum Narren machen. Aber diese Durchsuchung wird dir nie und nimmer genehmigt!«

Erlendur öffnete die Tür und trat auf den Korridor hinaus.

»Schneid dir bloß nicht in die Finger«, sagte er und machte die Tür hinter sich zu.

Erlendur hatte wegen des Kleifarvatn-Falls eine kurze Besprechung mit Elínborg und Sigurður Óli. Die Suche nach weiteren Informationen, die in irgendeiner Form über Lothar Auskunft gaben, war zeitraubend und mühselig. Alle Anfragen liefen über die deutsche Botschaft, wo es Erlendur immerhin gelungen war, sich unbeliebt zu machen.