»Kannst du dich an die Verlobte von diesem Leopold erinnern?«
»Nein«, sagte Benedikt nachdenklich. »Nein, das kann ich nicht behaupten. War sie …«
Sein Verstummen deutete darauf hin, dass er nicht so recht wusste, was er eigentlich über die Frau sagen sollte, die den Mann, den sie liebte, verlor und nie erfuhr, was aus ihm geworden war.
»Ja«, sagte Erlendur. »Sie war untröstlich. Und ist es immer noch.«
Der Tscheche Miroslav lebte in Südfrankreich. Er war zwar nicht mehr der Jüngste, aber sein Gedächtnis funktionierte noch einwandfrei. Er sprach Französisch und Englisch und erklärte sich bereit, sich telefonisch mit Sigurður Óli zu unterhalten. Patrick Quinn von der amerikanischen Botschaft hatte das Gespräch vermittelt. Der Tscheche war seinerzeit in seinem Heimatland wegen Spionage verurteilt worden und hatte einige Jahre im Gefängnis verbracht. Er war aber als Spion weder besonders umtriebig noch erfolgreich gewesen. Deswegen hatte er wohl den größten Teil seiner Laufbahn im auswärtigen Dienst in Island verbracht.
Er betrachtete sich selbst nicht als Spion, sondern erklärte, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, als ihm Geld dafür angeboten wurde, einen Kontaktmann in der amerikanischen Botschaft auf dem Laufenden zu halten, falls sich etwas Ungewöhnliches in seiner Botschaft oder in denen der anderen Ostblockstaaten zutrug. Er hatte aber nie etwas zu berichten gehabt, da auf Island ja nichts passierte.
Inzwischen war der Sommer fortgeschritten. Während der Sommerpause war das Skelett im Kleifarvatn vollständig in Vergessenheit geraten. In den Medien wurde mit keinem Wort mehr darauf eingegangen. Weil die meisten in Urlaub waren, hatte es sich auch hinausgezögert, dass Erlendurs Antrag auf eine Durchsuchung des ehemaligen Landbesitzes der beiden Brüder bearbeitet wurde.
Sigurður Óli war zwei Wochen mit Bergþóra in Spanien gewesen und kam braun gebrannt und gut gelaunt von dort zurück. Elínborg war in Island geblieben und hatte die zwei Wochen mit ihrem Teddi in einem Ferienhaus in Nordisland verbracht, das ihrer Schwester gehörte.
Das Interesse an ihrem Kochbuch hielt unvermindert an, und als in einer der Illustrierten ein kleines Interview mit ihr erschien, erklärte sie, dass das nächste bereits im Ofen garte, und meinte damit ein neues Kochbuch.
Eines Tages gegen Ende Juli flüsterte sie Erlendur zu, dass es jetzt endlich bei Sigurður Óli und Bergþóra geklappt hätte.
»Warum flüsterst du?«, fragte Erlendur.
»Endlich«, seufzte Elínborg froh. »Bergþóra hat es mir gesagt. Es soll noch geheim bleiben.«
»Was?«, fragte Erlendur.
»Bergþóra ist schwanger!«, sagte Elínborg. »Sie haben sich doch so viel Mühe gegeben! Sie haben es sogar mit künstlicher Befruchtung versucht, und jetzt hat es endlich geklappt.«
»Sigurður Óli bekommt also ein Kind?«, sagte Erlendur.
»Ja«, entgegnete Elínborg. »Aber kein Wort zu den anderen, es soll noch niemand etwas davon wissen.«
»Das arme Kind«, sagte Erlendur. Elínborg schnaubte verächtlich und verließ sein Büro.
Dieser Miroslav gab sich zunächst außerordentlich kooperativ. Das Telefongespräch wurde von Sigurður Ólis Büro aus geführt. Elínborg und Erlendur waren ebenfalls anwesend. Das Gespräch sollte aufgezeichnet werden. Am vereinbarten Tag zur vereinbarten Zeit nahm Sigurður Óli den Hörer ab, wählte die Nummer und schaltete den Lautsprecher ein.
Erst nach mehrmaligem Klingeln antwortete eine weibliche Stimme. Sigurður Óli stellte sich vor und fragte nach Miroslav. Er wurde um einen Augenblick Geduld gebeten.
Sigurður Óli blickte zu Elínborg und Erlendur hinüber und zuckte etwas verständnislos mit den Achseln. Endlich kam ein Mann an den Apparat, der sich als Miroslav vorstellte.
Sigurður Óli wiederholte noch einmal seinen Namen und kam gleich auf die Sache zu sprechen. Miroslav wusste sofort, worum es ging. Er sprach sogar ein wenig Isländisch, wollte aber das Gespräch lieber auf Englisch führen.
»Einfacher für mich«, sagte er.
»Ja, genau. Ähm, es handelt sich also um diesen Mitarbeiter der DDR-Vertretung in Reykjavik. In den siebziger Jahren war das. Diesen Lothar Weiser.«
»Ich habe gehört, dass ihr eine Leiche in einem See gefunden habt und glaubt, dass er das ist«, sagte Miroslav.
»Das steht keineswegs fest«, sagte Sigurður Óli. »Es ist nur eine Möglichkeit von mehreren«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.
»Ihr findet wohl dauernd Leichen, die an russische Abhörgeräte gebunden sind«, erwiderte Miroslav und lachte laut.
Quinn hatte ihn offensichtlich gut gebrieft. »Nein, ist mir schon klar. Ich verstehe natürlich, dass ihr vorsichtig an die Sache herangeht und nicht allzu viel preisgeben wollt und erst recht nicht am Telefon. Kriege ich diese Informationen bezahlt?«
»Tut mir Leid«, sagte Sigurður Óli. »Wir haben leider keine Möglichkeit, über so etwas zu verhandeln. Uns wurde gesagt, dass Sie mit uns kooperieren wollen.«
»Kooperieren, genau«, sagte Miroslav. »Enginn peningur?«, fragte er dann auf Isländisch.
»Nei«, antwortete Sigurður Óli ebenfalls auf Isländisch.
»Engir peningar.«
Die Leitung blieb eine Weile stumm, und sie warfen sich gegenseitig Blicke zu. Erst nach einer ganzen Weile meldete sich der Tscheche wieder. Er rief etwas in einer Sprache, die wohl Tschechisch war, und im Hintergrund antwortete eine weibliche Stimme. Die Stimmen klangen so gedämpft, als hielte er die Hand vor die Muschel. Es entspann sich ein längerer Wortwechsel, aber sie konnten nicht recht hören, ob es ein Streit war.
»Lothar Weiser war einer von den DDR-Spitzeln auf Island«, ließ sich Miroslavs Stimme auf einmal unvermittelt wieder in der Leitung vernehmen. Die Worte sprudelten aus ihm heraus, als sei er wütend wegen dieses Wortwechsels mit der Frau. »Lothar Weiser sprach ausgezeichnet Isländisch, das hat er in Moskau gelernt, wussten Sie das?«
»Ja, genau«, sagte Sigurður Óli. »Was hat er hier in Island gemacht?«
»Er betitelte sich als Wirtschaftsreferent. Das taten sie alle.«
»War er denn etwas anderes?«, fragte Sigurður Óli.
»Lothar Weiser arbeitete nicht für die Handelsvertretung, sondern für den Staatssicherheitsdienst der DDR«, erklärte Miroslav. »Seine Aufgabe war es, die Leute auf seine Seite zu ziehen, und darauf verstand er sich ausgezeichnet. Er wandte alle möglichen Tricks an, damit sie für ihn arbeiteten, und hatte ein besonderes Geschick dafür, sich die Schwächen der Leute zunutze zu machen. Er setzte sie so lange unter Druck, bis sie mit ihm zusammenarbeiteten. Er stellte ihnen regelrechte Fallen, unter anderem mit Hilfe von Nutten. Das haben sie alle getan. Er machte Aufnahmen, die die Leute in Schwierigkeiten bringen konnten. Begreifen Sie, worauf ich hinauswill? Er war ziemlich ideenreich.«
»Hat er, wie sollen wir das nennen, Komplizen hier in Island gehabt?«
»Meines Wissens nicht, aber das bedeutet nicht, dass er sie nicht trotzdem gehabt haben könnte.« Erlendur griff nach einem Stift auf dem Schreibtisch und begann, einen Gedanken, der ihm durch den Kopf geschossen war, auf ein Blatt zu kritzeln.
»Hatte er isländische Freunde, an die Sie sich erinnern können?«
»Über seine Verbindungen zu Isländern weiß ich nichts. Ich habe ihn nicht näher kennen gelernt.«
»Könnten Sie uns Lothar Weiser etwas genauer beschreiben?«
»Das Einzige, was für Lothar Weiser eine Rolle spielte, war er selber. Ihm war es völlig egal, wen er hinterging und betrog, solange er nur selber Nutzen daraus ziehen konnte. Er hatte viele Feinde, und es gab zweifellos nicht wenige, die ihn am liebsten aus dem Weg geräumt hätten. Das habe ich zumindest gehört.«