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Die Strategie war, die Betreffenden nicht anzurufen und sich am Telefon mit ihnen zu unterhalten, sondern sie versprachen sich mehr davon, unerwartet bei ihnen zu Hause vorzusprechen. Erlendur war der Meinung, dass die erste Reaktion, wenn die Kriminalpolizei vor der Tür stand, besonders wichtig war. Wie in militärischen Auseinandersetzungen konnte ein unerwarteter Angriff unter Umständen den Gegner aus der Reserve locken. Das Mienenspiel beispielsweise, wenn sie erklärten, weshalb sie gekommen waren. Die ersten Sätze.

Der September neigte sich bereits dem Ende zu, und sie waren mit ihren Recherchen über isländische Studenten in Leipzig in der Mitte der fünfziger Jahre angelangt, als Elinborg und Sigurður Óli eines Tages an der Tür einer Frau mit Namen Rut Bernharðs anklopften. Ihren Informationen zufolge hatte sie schon nach anderthalb Jahren das Studium in Leipzig abgebrochen.

Sie kam selbst zur Tür und erschrak heftig, als sich herausstellte, dass die Kriminalpolizei etwas von ihr wollte.

Siebenundzwanzig

Rut Bernharðs’ fragende Blicke wanderten zwischen Elinborg und Sigurður Óli hin und her. Sie begriff überhaupt nicht, was die Kriminalpolizei von ihr wollte. Sigurður Óli musste es dreimal wiederholen, bevor sie schaltete und fragte, worum es denn genau ginge. Es war gegen zehn Uhr morgens. Sie standen auf dem Korridor eines Wohnblocks der gleichen Art wie der, in dem Erlendur lebte, nur war dieser hier dreckiger, der Teppich zerschlissener, und auf sämtlichen Etagen roch es muffig.

Ruts Erstaunen war grenzenlos, als Elínborg ihr gesagt hatte, um was es ging.

»Die Studenten in Leipzig?«, sagte sie. »Was wollt ihr denn über sie wissen? Und wozu?«

»Dürfen wir vielleicht einen Moment zu dir hereinkommen?«, fragte Elínborg. »Es dauert bestimmt nicht lange.« Rut war noch eine ganze Weile unschlüssig, aber schließlich öffnete sie ihnen die Tür. Sie traten in eine kleine Diele, von der aus man ins Wohnzimmer gelangte. Rechts war das Schlafzimmer, links waren die Küche und das Wohnzimmer. Rut ließ sie Platz nehmen und fragte, ob sie vielleicht einen Tee oder etwas anderes wollten. Sie entschuldigte sich mehrmals und erklärte, sie habe noch nie in ihrem Leben mit der Polizei zu tun gehabt. Es war ihr anzusehen, wie verwirrt sie war. Elínborg ging davon aus, dass sie sich wieder fangen würde, während sie den Tee zubereitete, und sie nahm deswegen das Angebot dankend an, sehr zum Verdruss von Sigurður Óli, der keineswegs auf eine Einladung zum Tee erpicht war. Er gab Elínborg dies mit einer Grimasse zu verstehen, die sie aber mit einem Lächeln quittierte.

Sigurður Óli hatte tags zuvor wieder einen Anruf von dem Mann bekommen, der Frau und Tochter bei einem Verkehrsunfall verloren hatte. Bergþóra und er waren gerade von einer Routineuntersuchung nach Hause gekommen. Der Arzt hatte ihnen gesagt, dass die Schwangerschaft bestens verliefe, der Embryo würde prächtig gedeihen, und sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen.

Die Worte des Arztes hatten aber wenig Wirkung, denn Ähnliches hatten sie schon früher zu hören bekommen.

Sie saßen in der Küche und unterhielten sich besorgt über den weiteren Verlauf der Schwangerschaft, als das Telefon klingelte.

»Ich kann jetzt nicht mit dir reden«, sagte Sigurður Óli, als er hörte, wer dran war.

»Ich wollte dich nicht stören«, sagte der Mann, der immer die gleiche ausgesuchte Höflichkeit an den Tag legte. Er war immer sehr ruhig und wechselte nie die Tonlage, was Sigurður Óli auf Psychopharmaka zurückführte.

»Nein«, sagte Sigurður Óli, »nicht schon wieder.«

»Ich wollte mich nur noch einmal bei dir bedanken«, sagte der Mann.

»Keine Ursache, ich habe gar nichts gemacht«, erwiderte Sigurður Óli. »Du bist mir keinen Dank schuldig.«

»Ich glaube, ich sehe jetzt langsam klarer«, sagte der Mann.

»Das ist gut«, sagte Sigurður Óli.

»Ich vermisse sie so entsetzlich«, sagte der Mann.

»Natürlich tust du das«, sagte Sigurður Óli und sah zu Bergþóra hinüber.

»Ich will nicht aufgeben. Ihretwegen. Ich will versuchen, meinen Mann zu stehen.«

»Das ist gut.«

»Entschuldige die Störung. Ich weiß nicht, warum ich dich immer wieder anrufe. Das ist jetzt das letzte Mal.«

»Ist schon in Ordnung.«

»Ich muss durchhalten.«

Sigurður Óli wollte sich gerade verabschieden, als der Mann am anderen Ende plötzlich auflegte.

»Ist alles in Ordnung mit ihm?«, fragte Bergþóra.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Sigurður Óli. »Ich hoffe es.«

Elínborg und Sigurður Óli hörten, wie Rut in der Küche Tee kochte, kurz darauf erschien sie wieder im Wohnzimmer mit Tassen und Zuckerdose und fragte, ob sie Milch nähmen. Elínborg wiederholte das, was sie an der Tür über ihre Suche nach isländischen Studenten in Leipzig gesagt hatte, und fügte hinzu, dass diese Suche möglicherweise, und sie wiederholte: möglicherweise, mit dem Verschwinden einer Person kurz vor 1970 zu tun hatte.

Rut hörte ihr zu, ohne etwas zu sagen, bis der Kessel in der Küche zu pfeifen begann. Sie ging in die Küche und kam dann mit dem Tee und ein paar Keksen zurück. Elínborg wusste, dass sie über siebzig war, und fand, dass sie sich gut gehalten hatte. Sie war schlank, ungefähr so groß wie Elínborg und färbte sich die Haare braun. Sie hatte ein ovales Gesicht mit ernstem Ausdruck, der durch die Falten unterstrichen wurde, und ein schönes Lächeln, das sie aber sparsam dosierte.

»Ihr meint also, dass dieser Mann in Leipzig studiert hat?«, fragte sie.

»Das wissen wir nicht«, sagte Sigurður Óli.

»Von was für einem Vermisstenfall redet ihr?«, fragte Rut. »Ich kann mich an nichts in den Nachrichten erinnern, was …« Auf einmal wurde sie nachdenklich. »Nur an das Skelett aus dem Kleifarvatn im Frühjahr«, sagte sie. »Sprecht ihr vielleicht über das Skelett im Kleifarvatn?«

»Genau«, sagte Elínborg lächelnd.

»Und das soll etwas mit Leipzig zu tun haben?«

»Wir wissen es nicht«, sagte Sigurður Óli.

»Aber irgendetwas müsst ihr doch wohl wissen«, sagte Rut unbeirrt, »wenn ihr euch schon die Mühe macht, zu mir zu kommen, um mit einer ehemaligen Studentin aus Leipzig zu reden.«

»Wir haben ganz bestimmte Anhaltspunkte«, entgegnete Elínborg. »Sie sind aber nicht so stichhaltig, dass man viel darüber reden sollte. Wir hoffen aber, dass du uns vielleicht behilflich sein kannst.«

»Was hat das mit Leipzig zu tun?«

»Es muss nicht sein, dass dieser Mann in irgendeiner Form eine Verbindung mit Leipzig hatte«, mischte sich Sigurður Óli jetzt in etwas schärferem Ton ein. »Du hast das Studium in Leipzig nach anderthalb Jahren abgebrochen«, wechselte er das Thema. »Du warst zu diesem Zeitpunkt doch wohl kaum mit dem Studium fertig, oder?« Sie antwortete ihm nicht, sondern goss den Tee ein und gab Milch und Zucker in ihre Tasse. Während sie mit einem kleinen Löffel in der Tasse rührte, schien sie mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein.

»Es war also ein Mann da in dem See? Du hast Mann gesagt?«

»Ja«, sagte Sigurður Óli.

»Du bist Lehrerin, nicht wahr?«, fragte Elínborg.

»Ich bin auf die Pädagogische Hochschule gegangen, nachdem ich zurückgekehrt war«, sagte Rut. »Mein Mann war auch Lehrer, wir waren beide Grundschullehrer. Wir haben uns vor nicht allzu langer Zeit scheiden lassen. Ich bin jetzt pensioniert. Ich werde nicht mehr gebraucht. Es kommt einem so vor, als ob man aufhört zu leben, wenn man aufhört zu arbeiten.«