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Sie trank einen Schluck Tee, und Elínborg und Sigurður Óli taten es ihr nach.

»Ich konnte aber die Wohnung halten«, sagte sie.

»Es ist immer schlimm, wenn …«, begann Elínborg, aber Rut unterbrach sie, als sei sie nicht auf die Anteilnahme einer unbekannten Frau angewiesen, die sich ihr aufgedrängt hatte.

»Wir waren alle Sozialisten«, sagte sie und schaute Sigurður Óli an. »Alle, die in Leipzig waren.« Sie schwieg eine Weile, während sie sich in die Zeit zurückversetzte, als sie jung war und das ganze Leben vor ihr lag.

»Wir hatten Ideale«, sagte sie, und ihr Blick wanderte zu Elínborg. »Ich weiß nicht, ob es heutzutage noch jemanden gibt, der welche hat. Ich meine, von den jungen Leuten. Aufrichtige Ideale von einer besseren und gerechteren Welt. Ich glaube nicht, dass heute noch jemand so denkt.

Heute geht es doch nur darum, wie man zu möglichst viel Geld kommt. Damals hat niemand so gedacht, es ging nicht darum, zu Geld zu kommen oder etwas zu besitzen. Da gab es nicht dieses beispiellose Konsumdenken. Niemand besaß etwas, außer vielleicht schöne Ideale.«

»Die aber auf Lügen beruhten«, sagte Sigurður Óli. »Ist das nicht richtig? Zumindest zum größten Teil?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Rut. »Auf Lügen beruhten? Was ist eine Lüge?«

»Nein«, sagte Sigurður Óli eigentümlich brüsk. »Was ich meine, ist, dass der Kommunismus praktisch überall auf der Welt abgeschafft worden ist, abgesehen von Ländern, in denen es grobe Verstöße gegen die Menschenrechte gibt, beispielsweise China und Kuba. Es gibt kaum noch Leute, die sich dazu bekennen, dass sie einmal Kommunisten gewesen sind. Es ist beinahe ein Schimpfwort geworden. So ist es damals nicht gewesen, oder?«

Elínborg starrte Sigurður Óli schockiert an. Sie konnte nicht glauben, dass Sigurður Óli diese Frau absichtlich vor den Kopf stoßen wollte. Es kam für sie allerdings nicht ganz überraschend. Sie wusste, dass Sigurður Óli konservativ wählte, und sie hatte hin und wieder seine Ansichten über die isländischen Kommunisten gehört: dass sie endlich mal mit der Vergangenheit aufräumen müssten, nachdem sie jahrzehntelang ein total kaputtes System verteidigt hätten, ein System, von dem sie wussten, dass es nichts anderes bedeutete als Diktatur und Unterdrückung, da, wo es voll zum Tragen kam. Als hätten die Kommunisten ihre Vergangenheit noch nicht bewältigt, als hätten sie es besser wissen müssen und trügen die Verantwortung für all diese Lügen. Vielleicht hatte er sich deswegen jetzt Rut als Zielscheibe vorgenommen.

Vielleicht war ihm auch einfach mal wieder nur der Geduldsfaden gerissen.

»Du hast das Studium abbrechen müssen«, beeilte Elínborg sich zu sagen, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

»Für uns gab es kein edleres Ziel«, sagte Rut, die ihre Blicke nicht von Sigurður Óli abwandte. »Und das hat sich nicht geändert. Der Sozialismus, an den wir geglaubt haben und glauben, ist immer noch derselbe und hat seinen Anteil daran, dass hier eine Arbeiterbewegung entstanden ist. Er garantierte uns menschenwürdigere Arbeitsbedingungen und kostenlose Krankenhausbehandlungen, wenn dir oder deinen Angehörigen etwas zustößt. Und nur seinetwegen hast du eine Ausbildung machen können! Er hat die Sozialversicherung ermöglicht und unser ganzes Wohlfahrtssystem. Aber das ist gar nichts im Vergleich zu dem Sozialismus, nach dem wir alle leben, du und ich und sie, wenn wir überleben wollen. Es ist dieser Sozialismus, der uns zu Menschen macht. Denk bloß nicht, dass du mir mit solchen höhnischen Bemerkungen kommen kannst, Jungchen!«

»Bist du dir wirklich sicher, dass das alles durch den Sozialismus erreicht worden ist?«, fragte Sigurður Óli zurück.

Er ließ nicht locker. »Soweit ich weiß, waren es die Konservativen, die das Sozialversicherungssystem aufgebaut haben.«

»Blödsinn«, sagte Rut.

»Und die Sowjetunion?«, sagte Sigurður Óli. »War das nicht eine einzige Riesenlüge?« Rut schwieg eine Weile.

»Wieso ist dir daran gelegen, mich zur Rechenschaft zu ziehen?«, fragte sie.

»Ich ziehe dich nicht zur Rechenschaft«, sagte Sigurður Óli.

»Es kann gut sein, dass es manchem notwendig erschien, eine unerbittliche Position zu beziehen«, sagte Rut. »Vielleicht war genau das zu einem gewissen Zeitpunkt erforderlich. Aber das würdest du nie kapieren. Die Zeiten ändern sich, die Anschauungen ändern sich und die Menschen auch. Nichts ist unveränderlich. Ich begreife diese Wut nicht. Woher kommt sie?« Sie schaute Sigurður Óli direkt ins Gesicht.

»Woher kommt diese Wut?«

»Ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen«, sagte Sigurður Óli. »Das war keineswegs meine Absicht.«

»Kannst du dich an jemanden in Leipzig erinnern, der Lothar hieß?«, fragte Elínborg verlegen. Sie hoffte insgeheim darauf, dass Sigurður Óli sich unter einem Vorwand ins Auto zurückziehen würde, aber er blieb stur neben ihr sitzen und starrte Rut an. »Er hieß Lothar Weiser«, fügte sie hinzu.

»Lothar?«, sagte Rut. »Ja, aber nicht sehr gut. Er konnte Isländisch.«

»Das passt«, sagte Elínborg. »Erinnerst du dich an ihn?«

»Nur ganz wenig«, erklärte Rut. »Er kam manchmal zum Essen zu uns ins Wohnheim. Ich habe ihn aber nie näher kennen gelernt. Ich hatte immer Heimweh und … Die Verhältnisse waren so primitiv, die Unterkünfte waren schlimm und … ich … das war einfach nichts für mich.«

»Ja, die Zustände waren wohl schlimm dort nach dem Krieg«, sagte Elínborg.

»Es war einfach grauenvoll«, sagte Rut. »Der Aufbau in Westdeutschland ging zehnmal schneller voran, aber dort wurden sie ja auch von den Westmächten unterstützt. In der DDR lief alles im Schneckentempo oder überhaupt nicht.«

»Soweit wir wissen, hat dieser Lothar die Aufgabe gehabt, seine Kommilitonen dazu zu bringen, für sich zu arbeiten«, sagte Sigurður Óli. »Oder sie in gewissem Sinne zu bespitzeln. Hast du davon etwas bemerkt?«

»Wir wurden ständig bespitzelt«, erklärte Rut, »und wir wussten es alle. Es wurde die gegenseitige Kontrolle genannt, ein anderer Begriff für Bespitzeln. Die Leute sollten sich freiwillig melden und davon berichten, wenn sie das Gefühl hatten, mit antisozialistischen Anschauungen in Berührung zu kommen. Wir haben das natürlich nicht gemacht, keiner von uns. Ich habe nicht bemerkt, dass Lothar die Aufgabe hatte, uns zu Mitarbeitern zu machen. Alle ausländischen Studierenden hatten einen so genannten Betreuer, an den sie sich immer wenden konnten und der sich um sie kümmerte. Lothar war einer von diesen Betreuern.«

»Hast du noch Verbindung zu deinen ehemaligen Kommilitonen aus Leipzig?«

»Nein«, sagte Rut, »es ist lange her, dass ich jemanden getroffen habe. Wir haben keinen Kontakt mehr zueinander, oder zumindest weiß ich davon nichts. Was mich betrifft: Ich bin ausgestiegen, als ich nach Hause kam. Das heißt, ich bin nicht aus der Partei ausgetreten, aber ich habe mich völlig zurückgezogen.«

»Wir haben hier die Namen von weiteren isländischen Studenten in Leipzig, die zu deiner Zeit dort waren: Karl, Hrafnhildur, Emíl, Tómas, Hannes …«

»Hannes wurde von der Uni relegiert und nach Island abgeschoben«, unterbrach Rut Sigurður Óli. »Soweit ich gehört habe, hat er zum Schluss weder an den Pflichtveranstaltungen noch an den Aufmärschen zum Tag der Republik teilgenommen, und irgendwie passte er nicht mehr ins Bild. Man ging in der DDR davon aus, dass wir an allem teilnahmen. Deswegen haben wir in den Semesterferien für den Sozialismus gearbeitet. In den Landwirtschaftskollektiven und im volkseigenen Braunkohlenabbau. Soweit ich weiß, hatte Hannes kritische Ansichten über das, was er sah und hörte. Es ging ihm nur noch darum, sein Studium zu Ende zu bringen, aber das wurde ihm nicht gestattet. Vielleicht wäre es gut, wenn ihr euch mit ihm unterhieltet — falls er überhaupt noch am Leben ist, was ich nicht weiß.«