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Sie blickte fragend von Sigurður Óli zu Elínborg.

»Habt ihr vielleicht Hannes da in dem See gefunden?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Elínborg. »Ganz bestimmt nicht. Unseres Wissens lebt er in Selfoss und betreibt dort ein kleines Hotel.«

»Ich kann mich daran erinnern, dass er nach seiner Rückkehr über seine Leipziger Erfahrungen schrieb, und deswegen haben sie ihn fertig gemacht, die alten Sozis in der Partei. Sie haben ihn als Verräter und Lügner gebrandmarkt. Die Rechten haben ihn wie den verlorenen Sohn aus der Bibel gefeiert und auf Händen getragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm daran gelegen war.

Ich denke, er hat ganz einfach nur die Realität schildern wollen, die ihm allenthalben ins Auge sprang, aber das kostet natürlich Kraft. Ich habe ihn ein paar Jahre später einmal getroffen, da wirkte er sehr reserviert und sagte wenig. Vielleicht hat er geglaubt, dass ich immer noch in der Partei aktiv wäre, aber das war ich nicht. Ihr solltet mit ihm sprechen. Er könnte mehr über Lothar wissen. Ich war bloß so kurze Zeit da.«

Als sie wieder im Auto saßen, wies Elínborg Sigurður Óli scharf darauf hin, dass seine privaten politischen Ansichten in einer kriminalpolizeilichen Ermittlung nichts zu suchen hätten, er solle sich gefälligst am Riemen reißen und nicht in dieser Form über die Leute herfallen, und schon gar nicht über ältere Damen, die allein lebten.

»Was ist eigentlich mit dir los?«, fragte sie, als sie losfuhren. »Ich hab noch nie so einen Quatsch gehört. Ich möchte genau wie Rut wissen: Woher kommt diese Wut?«

»Ach, Mensch, ich weiß nicht«, sagte Sigurður Óli. »Mein Vater war so ein knallharter Kommunist, der nie zur Vernunft kam«, sagte er schließlich. Es war das erste Mal, dass er Elínborg gegenüber seinen Vater erwähnte.

Erlendur war gerade nach Hause gekommen, als das Telefon klingelte. Er brauchte eine Weile, um sich zu besinnen, wer dieser Benedikt Jónsson am anderen Ende der Leitung war, aber dann erinnerte er sich. Dieser Mann hatte Leopold in seiner Firma angestellt.

»Störe ich?«, erkundigte sich Benedikt höflich, als Erlendur klar geworden war, wer am Apparat war.

»Nein«, sagte Erlendur. »Kann ich irgendwas …«

»Es ist wegen diesem Mann.«

»Diesem Mann?«, sagte Erlendur.

»Diesem Mann aus der DDR-Botschaft oder der Handelsmission, oder wie das nun hieß«, sagte Benedikt. »Dem, der mir gesagt hat, ich müsste diesen Leopold anstellen, und der mich darauf hingewiesen hat, dass das deutsche Unternehmen ansonsten Konsequenzen ziehen würde — falls ich mich weigerte.«

»Ja«, sagte Erlendur. »Dieser Stämmige. Was ist mit ihm?«

»Irgendwie erinnere ich mich dunkel daran«, sagte Benedikt, »dass er Isländisch konnte. Eigentlich hat er ganz gut Isländisch gesprochen.«

Achtundzwanzig

Die Wochen nach Ilonas Verschwinden vergingen eine nach der anderen wie ein unbegreiflicher Albtraum. In seiner Erinnerung waren sie ein einziges Horrorszenario.

An welche Behörde in Leipzig er sich auch wandte, überall stieß er auf die gleiche ablehnende Haltung. Niemand wollte ihm sagen, was aus ihr geworden war, wohin man sie gebracht hatte und wo sie gefangen gehalten wurde, wessen sie beschuldigt wurde oder welche Abteilung der Volkspolizei mit ihrer Verhaftung zu tun hatte. Er versuchte, zwei seiner Dozenten von seinem Anliegen zu überzeugen, aber sie erklärten nur, dass sie nichts ausrichten könnten. Er wagte einen Vorstoß beim Rektor der Universität, aber der lehnte das Ansinnen rundheraus ab. Als er den zuständigen FDJ-Funktionär dazu bringen wollte, Nachforschungen anzustellen, wurde er eiskalt abserviert.

Zum Schluss rief er im Außenministerium in Island an.

Man versprach, sich in dieser Angelegenheit kundig zu machen, aber er hörte nie wieder etwas von dort; Ilona war keine isländische Staatsbürgerin, und sie waren nicht verheiratet. Der isländische Staat hatte keine Interessen wahrzunehmen, und darüber hinaus bestanden keine diplomatischen Beziehungen zur DDR. Seine Freunde an der Universität und die Isländer in Leipzig versuchten, ihm den Rücken zu stärken, waren aber genauso ratlos wie er.

Sie verstanden nicht, was da vorging. Vielleicht war alles nur ein Missverständnis. Früher oder später würde sie wieder auftauchen, und alles würde klargestellt werden.

Das Gleiche sagten Ilonas Freunde und andere ungarische Studenten an der Universität, die genauso bemüht waren, Antworten zu erhalten. Alle versuchten sie, ihn zu trösten und ihm zu sagen, dass er die Ruhe bewahren müsse, alles würde sich zum Schluss aufklären.

Er fand heraus, dass außer Ilona auch noch andere an diesem Tag verhaftet worden waren. Die Staatssicherheit hatte eine Razzia an der Universität durchgeführt. Unter denen, die festgenommen wurden, waren auch einige von Ilonas Freunden, die auf den geheimen Treffen gewesen waren.

Er wusste, dass Ilona sie alle gewarnt hatte, nachdem klar war, dass sie beschattet wurden und dass die Stasi Fotos von ihnen besaß. Einige wenige wurden noch am selben Tag wieder auf freien Fuß gesetzt, andere waren länger in Polizeigewahrsam, und einige waren immer noch im Gefängnis, als sie ihn abschoben. Niemand hatte etwas von Ilona gehört.

Er nahm Verbindung zu Ilonas Eltern auf, die von ihrer Verhaftung erfahren hatten; sie schrieben ihm einen ergreifenden Brief und wollten wissen, ob er Näheres über Ilonas Schicksal herausgefunden habe. Ihnen war nichts darüber bekannt, dass man sie nach Ungarn abgeschoben hatte. Zuletzt hatten sie eine Woche vor ihrem Verschwinden von ihr gehört, als sie einen Brief von ihr erhielten.

Darin hatte nichts gestanden, was darauf hindeutete, dass sie sich in Gefahr befand. Die Eltern hatten versucht, die ungarischen Behörden einzuschalten, um Nachforschungen über das Schicksal ihrer Tochter in der DDR anzustellen, aber ohne Erfolg. Die Behörden zeigten sich völlig desinteressiert. Angesichts des politischen Zustands in Ungarn machten sich die Funktionäre nicht das Geringste daraus, wenn eine vermeintliche Oppositionelle verhaftet wurde.

Die Eltern schrieben auch, dass sie keine Reiseerlaubnis in die DDR bekämen, um selber Nachforschungen anzustellen. Sie schienen vollkommen verzweifelt zu sein.

Er schrieb zurück, dass er alles daransetze, um in Leipzig etwas in Erfahrung zu bringen. Er sehnte sich danach, ihnen alles sagen zu können, was er wusste, dass sie heimlich gegen die SED und die FDJ agitiert hatte, dass sie Kritik an bestimmten Veranstaltungen und an der Unterdrückung von Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit geübt hatte. Dass sie junge Deutsche auf ihre Seite gezogen und geheime Treffen organisiert hatte. Und dass sie es nicht hätte voraussehen können. Und schon gar nicht er selber. Aber er wusste, dass er einen solchen Brief nicht schreiben konnte, weil alles, was von ihm kam, gelesen werden würde.

Stattdessen schrieb er, dass er nicht ruhen werde, bis er herausgefunden hätte, was aus Ilona geworden war, und sie wieder freikäme.

Er ging nicht mehr zur Universität. Tagsüber marschierte er von einer Behörde zur anderen und ließ sich Termine bei den Funktionären geben, verlangte Hilfe und Erklärungen.

Zuletzt war es nur noch eine reine Formsache, denn es stellte sich immer klarer heraus, dass er dort keine Antworten auf seine Fragen bekam und sie nirgends bekommen würde. Nachts tigerte er in ihrem kleinen Zimmer auf und ab. Er konnte kaum noch richtig schlafen, schreckte nach ein paar Stunden unruhigem Schlaf wieder hoch. Die ganze Zeit über hoffte er, dass sie plötzlich wieder auftauchen würde, dass der Albtraum zu Ende wäre, dass sie mit einer Verwarnung freigelassen und wieder zu ihm zurückkommen würde und sie zusammen sein konnten. Er fuhr bei jedem Geräusch auf, das von der Straße hereindrang.

Wenn sich ein Auto näherte, ging er zum Fenster. Wenn es irgendwo im Haus knarrte, blieb er stehen, lauschte und hoffte, dass es Ilona wäre. Aber sie kam nicht. Und wieder brach ein neuer Tag an, und er war so entsetzlich allein und hilflos in dieser Welt.