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Endlich raffte er sich dazu auf, Ilonas Eltern einen weiteren Brief zu schreiben und ihnen zu sagen, dass sie sein Kind unter dem Herzen getragen hatte. Es kam ihm so vor, als hörte er bei jedem einzelnen Buchstaben ihr Wehklagen.

Nun hielt er nach all diesen Jahren die Briefe von ihnen in der Hand, las sie wieder und spürte immer noch den Zorn darin, später die Verzweiflung und das völlige Unverständnis. Sie sahen ihre Tochter nie wieder. Er sah seine Geliebte nie wieder.

Ilona war für sie unwiederbringlich verloren.

Wie immer, wenn er es sich gestattete, sich in seine schmerzlichsten Erinnerungen zu vergraben, seufzte er tief. Gleichgültig, wie viele Jahre auch vergingen, die Sehnsucht war immer gleich schmerzhaft, der Verlust genauso unbegreiflich wie zuvor. In späteren Jahren versuchte er es zu vermeiden, über ihr Schicksal nachzudenken. Früher hatte er sich endlos mit dem Gedanken daran gequält, was mit ihr geschehen war, nachdem man sie abgeführt hatte. Er stellte sich die Verhöre vor. Er sah die Gefängniszelle neben dem kleinen Büro in der Stasizentrale vor sich. Hatte man sie dort eingesperrt? Wie lange? Hatte sie Angst gehabt? Hatte sie sich gewehrt? Hatte sie geweint? War sie misshandelt worden? Wie lange war sie dort oder woanders geblieben? Und natürlich die schlimmste Frage von allen: Was war aus ihr geworden? Jahrelang hatte sich sein ganzes Leben nur um diese Fragen gedreht. Er hatte nie geheiratet und Kinder bekommen.

Er versuchte, so lange wie möglich in Leipzig zu bleiben, aber da er sich von der Universität fern hielt und sich den Behörden und der FDJ gegenüber renitent verhielt, wurde ihm das Stipendium gestrichen. Er versuchte, ein Bild von Ilona zusammen mit einer Meldung über ihre ungesetzliche Festnahme im FDJ-Organ und in den Tageszeitungen von Leipzig unterzubringen, lief aber gegen Wände. Zuletzt wurde er aus der DDR ausgewiesen.

Als er später Nachforschungen anstellte und sich darüber informierte, wie man in jenen Zeiten im Ostblock mit Oppositionellen und Regimegegnern verfuhr, fand er heraus, dass es eine Reihe von Möglichkeiten gab. Sie konnte während der Inhaftierung in Leipzig oder in Ostberlin, wo sich der Hauptsitz der Staatssicherheit befand, umgekommen sein, oder sie war in ein Gefängnis wie Schloss Hoheneck überführt worden und hatte da den Tod gefunden. Dort befand sich das größte Frauengefängnis für politische Gefangene in der DDR. Ein anderes berüchtigtes Gefängnis war Bautzen II, bekannt unter dem Namen »Gelbes Elend«, weil die Mauersteine dort gelb waren. Dort wurden Häftlinge untergebracht, die sich der »verräterischen Handlungsweise gegen den Arbeiter- und Bauernstaat« schuldig gemacht hatten. Viele politisch Andersdenkende wurden kurz nach der ersten Verhaftung, die als Warnung galt, wieder freigelassen. Andere kamen nach kurzer Haft wieder frei, ohne jemals vor Gericht gestellt worden zu sein, und wieder andere tauchten erst nach vielen Jahren wieder auf, einige aber auch nie. Ilonas Eltern erhielten nie eine Benachrichtigung über ihren Tod, deswegen lebten sie jahrelang in der Hoffnung, dass sie wiederkommen könnte, aber das geschah nicht. Trotz intensiver Bemühungen, sowohl bei den Behörden in Ungarn als auch in der DDR, erhielten sie niemals Auskünfte über ihre Tochter. Es war, als hätte sie nie existiert.

Als Ausländer hatte er in einer Gesellschaft, die er so wenig kannte und noch weniger verstand, letzten Endes kaum Chancen. Er litt unter dem Gefühl seiner Ohnmacht gegenüber den Machthabern, während er von Dienststelle zu Dienststelle, von einem leitenden Funktionär zum anderen lief. Er hasste es, sich von allen Seiten sagen lassen zu müssen, dass man einen Menschen wie Ilona verhaften konnte, nur weil sie andere Ansichten hatte als die Machthaber.

Immer wieder fragte er Karl danach, was bei Ilonas Verhaftung geschehen war. Er war der einzige Zeuge, als die Polizei bei ihr zu Hause erschien. Er hatte von ihr einen Band mit Gedichten eines jungen ungarischen Dichters, den sie ins Deutsche übersetzt hatte, ausleihen wollen.

»Und was passierte dann?«, fragte er Karl zum hundertsten Mal. Er und Emíl saßen im Erfrischungsraum mit Karl zusammen. Drei Tage waren seit Ilonas Verschwinden vergangen, und er klammerte sich zu dem Zeitpunkt noch an die Hoffnung, dass man sie wieder freiließe und sie sich jeden Augenblick bei ihm melden oder womöglich hier in der Kaffeestube auftauchen würde. In regelmäßigen Abständen wanderten seine Blicke zur Eingangstür. Er war außer sich vor Sorge.

»Sie hat mir einen Tee angeboten«, sagte Karl, »und ich habe nicht nein gesagt. Dann hat sie Wasser aufgesetzt.«

»Über was habt ihr geredet?«

»Nichts Besonderes, bloß über Bücher, die wir gelesen hatten.«

»Was hat sie gesagt?«

»Nichts. Wir haben uns einfach unterhalten, und zwar über nichts Besonderes. Wir konnten doch nicht wissen, dass sie kurze Zeit später verhaftet werden würde.« Karl sah, wie sehr er unter all dem litt.

»Ilona war mit uns allen befreundet«, sagte er. »Ich versteh das nicht. Ich begreife nicht, was hier vorgeht.«

»Und was dann? Was ist passiert?«

»Dann klopfte es an der Tür«, sagte Karl.

»Und?«

»An der Wohnungstür. Wir waren in ihrem Zimmer, in eurem Zimmer, meine ich. Sie hämmerten an die Tür und brüllten etwas, das wir nicht verstanden. Ilona ging zur Tür, und als sie öffnete, stürmten sie herein.«

»Wie viele waren es?«

»Fünf, oder vielleicht sechs, ich kann mich nicht genau erinnern. Das Zimmer war voll von ihnen. Einige trugen die Uniform der Vopos, andere waren in Zivil. Einer kommandierte herum, und die anderen haben ihm gehorcht. Sie fragten Ilona nach ihrem Namen, sie hatten auch ihr Foto dabei, vielleicht das aus der Studentenkartei. Ich weiß es nicht. Und dann haben sie sie abgeführt.«

»Und sie haben alles auf den Kopf gestellt?«, fragte er.

»Sie haben einige Papiere mitgenommen, die sie gefunden hatten, und auch einige Bücher, aber ich weiß nicht, was genau«, sagte Karl.

»Was hat Ilona gemacht?«

»Sie wollte natürlich wissen, worum es ging, und hat mehrmals danach gefragt. Ich auch. Sie haben einfach nicht geantwortet. Sie haben ihr nicht geantwortet und erst recht nicht mir. Sie haben mich überhaupt nicht beachtet. Ilona bat darum, ein Telefongespräch führen zu dürfen, aber das wurde ihr nicht gestattet. Sie hatten den Auftrag, sie zu verhaften, nichts anderes.«

»Konntest du nicht fragen, wohin sie mit ihr wollten?«, warf Emíl ein. »Konntest du nicht irgendetwas machen?«

»Da war nichts zu machen«, sagte Karl kleinlaut. »Das müsst ihr verstehen. Wir konnten gar nichts tun. Ich konnte nichts machen! Sie waren gekommen, um sie zu verhaften, und sie haben sie abgeführt.«

»Hat sie Angst gehabt?« Karl und Emíl schauten ihn teilnahmsvoll an.

»Nein«, sagte Karl. »Sie hatte keine Angst. Sie hat gefragt, wonach sie suchten und ob sie ihnen behilflich sein könnte. Und dann gingen sie mit ihr weg. Sie bat mich noch, dir zu sagen, dass alles wieder in Ordnung kommen würde.«

»Wie hat sie sich genau ausgedrückt?«

»Ich sollte dir sagen, dass alles in Ordnung kommen würde. Das hat sie gesagt, und ich sollte es dir ausrichten. Dass alles in Ordnung kommen würde.«

»Das hat sie gesagt?«

»Dann wurde sie ins Auto gebracht. Sie waren mit zwei Autos gekommen. Ich rannte hinterher, aber das war natürlich hoffnungslos. Sie verschwanden um die Ecke. Das war das Letzte, was ich von Ilona gesehen habe.«

»Was wollten diese Kerle?«, stöhnte er. »Was haben sie mit ihr gemacht? Warum will niemand mir etwas sagen? Warum kriegt man keine Antworten? Was werden sie mit ihr machen? Was können sie ihr antun?« Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub sein Gesicht in den Händen.