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»Was um alles in der Welt ist geschehen?«, stöhnte er.

»Vielleicht kommt es ja wieder in Ordnung«, sagte Emíl und versuchte, ihn zu trösten. »Vielleicht ist sie schon wieder zu Hause. Vielleicht kommt sie morgen nach Hause.« Er schaute Emíl mit verstörten Augen an. Karl saß stumm da.

»Wusstet ihr, dass … nein, natürlich habt ihr das nicht gewusst.«

»Was?«, fragte Emíl. »Was sollen wir gewusst haben?«

»Sie hat es mir gesagt, als wir uns zuletzt sahen. Niemand hat etwas gewusst.«

»Was wusste niemand?«, sagte Emíl.

»Dass sie schwanger ist«, sagte er. »Sie hatte es gerade erfahren. Wir bekommen ein Kind! Kapierst du jetzt? Kapierst du, wie abscheulich das ist? Diese verdammte Scheißbespitzelei und die Denunziationen dieser Arschlöcher! Was für Scheusale sind das? Was sind das für Menschen?! Für was kämpfen die? Wollen sie eine bessere Welt, indem sie einander bespitzeln? Wie lange wollen sie das Land hier mit Hilfe von Angst und Menschenverachtung regieren?«

»Sie war schwanger?«, stöhnte Emíl.

»Ich hätte bei ihr sein sollen, Karl, und nicht du. Ich hätte nie zugelassen, dass sie sie abführen. Niemals.«

»Willst du etwa mir die Schuld daran geben?,« fragte Karl.

»Es war nicht möglich, etwas zu tun. Ich konnte gar nichts machen.«

»Nein«, sagte er und legte die Hände vors Gesicht, um seine Tränen zu verbergen. »Natürlich nicht. Natürlich trägst du keine Schuld.«

Später, nachdem er gezwungen worden war, Leipzig und die DDR zu verlassen, und er seine Abreise vorbereitete, hatte er ein letztes Mal Lothar aufgesucht. Er traf ihn im FDJ-Büro an der Universität. Er hatte nicht das Geringste über Ilona herausgefunden. Die Angst und die Sorge, die ihn in den ersten Tagen und Wochen auf der Suche nach ihr vorangetrieben hatten, waren Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit gewichen, die ihn beinahe erdrückten.

Lothar schäkerte im Büro mit zwei jungen Frauen, die über etwas, das er gesagt hatte, kicherten. Sie verstummten, als er eintrat. Er bat Lothar um ein Gespräch unter vier Augen.

»Und worum geht es diesmal?«, fragte Lothar, ohne sich zu rühren. Die beiden Frauen schauten ihn an, ihre Mienen waren jetzt ernst. Ilonas Verhaftung war wie ein Lauffeuer durch die ganze Universität gegangen. Sie war als Verräterin angeprangert worden, und es hieß, man hätte sie nach Ungarn abgeschoben. Er wusste, dass das eine Lüge war.

»Ich würde gern mit dir reden«, sagte er. »Ist das möglich?«

»Du weißt, dass ich nichts für dich tun kann«, sagte Lothar. »Ich habe dir das bereits gesagt. Lass mich in Ruhe.« Lothar wandte sich wieder den beiden Frauen zu, um weiter mit ihnen seine Späße zu machen.

»Hast du etwas mit Ilonas Verhaftung zu tun gehabt?«, fragte er und war jetzt ins Isländische übergewechselt.

Lothar wandte ihm den Rücken zu und antwortete nicht.

Die Blicke der Mädchen wanderten zwischen ihnen hin und her.

»Du hast vielleicht sogar selber den Befehl zur Verhaftung gegeben«, sagte er und hob die Stimme. »Hast du ihnen gesagt, dass sie gefährlich wäre? Dass man sie aus dem Verkehr ziehen müsste? Dass sie antikommunistische Propaganda verbreitete? Dass sie Widerstandstreffen organisierte? Warst du es, Lothar? War das deine Aufgabe?« Lothar tat, als hörte er ihn nicht, und sagte stattdessen etwas zu den beiden Frauen, die albern grinsten. Er trat an Lothar heran und packte ihn am Arm.

»Wer bist du?«, fragte er gefasst und ruhig. »Sag mir das.« Lothar drehte sich zu ihm um und schlug seine Hand weg.

Er packte ihn bei den Jackettaufschlägen und stieß ihn so heftig gegen den Aktenschrank an der Wand, dass es krachte.

»Lass mich in Ruhe«, zischte Lothar zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Was hast du Ilona angetan?«, fragte er mit der gleichen gefassten Stimme und machte keinen Versuch, sich zu wehren. »Wo ist sie? Sag mir das.«

»Ich habe nichts getan«, fauchte Lothar. »Sondier deine Umgebung, du dämlicher Isländer!« Damit stieß Lothar ihn zu Boden und marschierte aus dem Zimmer.

Auf der Heimreise erfuhr er, dass das sowjetische Militär in Ungarn einmarschierte, um den Aufstand niederzuschlagen.

Er hörte die alte Wanduhr Mitternacht schlagen und legte die Briefe wieder zurück an ihren Platz.

Im Fernsehen hatte er die Nachrichten aus aller Welt verfolgt. Die Berliner Mauer war gefallen, und Deutschland sollte wiedervereinigt werden. Er sah, wie die Menschen auf die Mauer kletterten und mit Spitzhacken und Vorschlaghämmern darauf einschlugen, als wollten sie die Bösartigkeit und Menschenverachtung treffen, mit denen sie errichtet worden war.

Als die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten Wirklichkeit geworden war und er sich bereit glaubte, unternahm er eine Reise in die ehemalige DDR. Es war das erste Mal, seitdem er dort studiert hatte. Diesmal brauchte er nur einen halben Tag, um dorthin zu gelangen. Er flog nach Frankfurt und von dort aus weiter nach Leipzig. Am Flughafen nahm er ein Taxi, das ihn zu seinem Hotel brachte. Abends aß er allein im Hotel, das ganz in der Nähe der Altstadt und des Universitätsgeländes lag. Im Restaurant saßen nur wenige Menschen, zwei ältere Ehepaare und vereinzelt ein paar Männer. Womöglich Vertreter, dachte er. Einer von ihnen nickte ihm zu, als ihre Blicke sich trafen.

Später am Abend unternahm er einen langen Spaziergang und erinnerte sich daran, was er gefühlt hatte, als er zum ersten Mal nach seiner Ankunft in aller Herrgottsfrühe durch die Stadt spazierte, in der er studieren sollte. Er dachte daran, wie die Welt sich seitdem verändert hatte. Er ging über das Universitätsgelände. Sein ehemaliges Wohnheim, die alte Villa, war instand gesetzt und restauriert worden, und dort befand sich jetzt die Hauptniederlassung eines ausländischen Konzerns. Das alte Universitätsgebäude, wo er Vorlesungen und Seminare besucht hatte, wirkte in der nächtlichen Finsternis noch düsterer, als er es in Erinnerung hatte. Er ging zurück in Richtung Innenstadt und besuchte die Nikolaikirche. Er stellte eine Kerze zum Gedenken an die Verstorbenen auf und zündete sie an. Dann lief er über den früheren Karl-Marx-Platz und von da aus zur Thomaskirche. Er schaute zur Statue von Bach hoch, vor der sie damals so oft gestanden hatten.

Eine alte Frau näherte sich ihm und bot ihm einen Blumenstrauß an. Er lächelte sie an und kaufte ihr einen kleinen Strauß ab.

Kurze Zeit später lenkte er seine Schritte dorthin, wo er im Geiste so oft verweilt hatte, im Wachen und im Träumen. Er freute sich zu sehen, dass das Haus noch stand.

Es war zum Teil renoviert worden, und die Fenster waren erleuchtet. Er traute sich nicht, zu den Fenstern hineinzuschauen, aber es kam ihm so vor, als lebte dort jetzt eine Familie. Dort, wo einmal das Wohnzimmer der alten Dame gewesen war, die alle ihre Angehörigen im Krieg verloren hatte, sah man jetzt das Flimmern eines Fernsehgeräts. Jetzt sah es da drinnen bestimmt ganz anders aus. Vielleicht war ihr Zimmer jetzt das Kinderzimmer des ältesten Sprösslings.

Er küsste den Blumenstrauß, legte ihn bei der Tür nieder und schlug das Zeichen des Kreuzes über ihm.

Einige Jahre zuvor war er nach Budapest geflogen und hatte Ilonas hochbetagte Mutter und ihre beiden Brüder getroffen. Der Vater war gestorben, ohne etwas über das Schicksal seiner Tochter erfahren zu haben.

Er saß einen ganzen Tag lang bei der alten Frau, die ihm Bilder von Ilona zeigte, als sie klein war, als Jugendliche und bis zum Abitur. Ilonas Brüder, die genau wie er nicht mehr die Jüngsten waren, sagten ihm das, was er bereits wusste, dass all ihr Bemühen um Antworten auf die Frage nach Ilonas Verbleib erfolglos geblieben war. Er hörte die Bitterkeit in ihren Worten und die Resignation, die sich seit langem in ihnen eingenistet hatte.

Am Tag nach seiner Ankunft in Leipzig begab er sich zur alten Stasizentrale am Dittrichring. Jetzt saßen aber keine Stasimitarbeiter mehr im Anmeldezimmer, sondern eine junge Frau, die ihn freundlich anlächelte und ihm eine Informationsbroschüre reichte. Er sprach immer noch recht gut Deutsch und erzählte ihr, dass er zu Gast sei und sich das Gebäude ansehen wolle. Außer ihm befanden sich noch zahlreiche andere Menschen dort und gingen durch offene Türen von einem Raum zum anderen, ohne dass jemand etwas sagte. Die junge Frau hörte, dass er Ausländer war, und auf ihre Frage, woher er käme, sagte er ihr, dass er Isländer sei. Sie erklärte, dass aus der ehemaligen Stasizentrale ein Museum gemacht werden solle. Er könne sich gern den Vortrag anhören, der gleich beginnen würde, und sich dann im Haus umschauen. Sie begleitete ihn in den Bürotrakt, wo Stühle aufgestellt worden waren. Alle waren besetzt, und einige Zuhörer lehnten an der Wand. In dem Vortrag ging es um die Inhaftierungen oppositioneller Schriftsteller in den siebziger Jahren.