Als der Vortrag zu Ende war, betrat er das Büro mit der kleinen Nische, wo Lothar und der Mann mit dem buschigen Schnauzbart ihm zugesetzt hatten. Die Zelle daneben stand offen, und er betrat sie. Vielleicht ist Ilona hier gewesen, ging es ihm durch den Kopf. Die Wände der Zelle waren mit Kritzeleien bedeckt, und er überlegte, ob sie womöglich mit einem Löffel gemacht worden waren.
Er hatte einen Antrag gestellt, die Akten bei der Behörde für Stasi-Unterlagen einsehen zu dürfen. Dort half man den Menschen dabei, Nachforschungen über verschollene Angehörige anzustellen oder die eigenen Akten mit den Informationen zu finden, die man im Zuge der gegenseitigen Kontrolle von Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden und Familienangehörigen gesammelt hatte. Journalisten, Wissenschaftler und diejenigen, die glaubten, in den Akten erwähnt zu sein, konnten solche Anträge stellen, und das hatte er von Island aus sowohl schriftlich als auch telefonisch getan. Der Antragsteller musste präzise und ausführlich begründen, weswegen er die Akten einsehen wollte und wonach er suchte. Ihm war bekannt, dass tausende von braunen Umschlägen mit solchen Informationen in den letzten Tagen des DDR-Regimes in den Reißwolf gewandert waren und dass zahllose Personen daran arbeiteten, sie wieder zusammenzufügen. Der Umfang dieser Dokumente war ungeheuerlich.
Seine Reise nach Deutschland zeitigte keinen Erfolg. Trotz intensiver Suche fand er nicht das Geringste über Ilona.
Ihm wurde gesagt, dass ihre Akten wahrscheinlich vernichtet worden waren. Möglicherweise sei sie in die Arbeits- und Gefangenenlager in der Sowjetunion geschickt worden, und dann bestünde die Möglichkeit, in Moskau etwas darüber in Erfahrung zu bringen. Denkbar war auch, dass sie in den Händen des Staatssicherheitsdienstes zu Tode gekommen war, in Leipzig oder in Berlin, falls man sie dorthin gebracht hätte.
In den alten Stasiakten fand er ebenfalls nichts über den Verräter, der damals seine einzige große Liebe an die Staatssicherheit ausgeliefert hatte.
Jetzt saß er da und wartete darauf, dass die Polizei vor seiner Tür auftauchte. Das hatte er den ganzen Sommer bis in den Herbst hinein getan, ohne dass etwas passiert war.
Er war überzeugt, dass die Polizei früher oder später bei ihm erscheinen würde, und er hatte sich Gedanken gemacht, wie er darauf reagieren sollte. Würde er so tun, als sei nichts geschehen, und alles abstreiten und so tun, als fiele er aus allen Wolken? Es hinge vielleicht davon ab, was sie herausgefunden hatten. Er hatte keine Ahnung, was das sein könnte, stellte sich aber vor, dass sie gut vorbereitet sein müssten, wenn es ihnen einmal gelungen war, die Spur bis zu ihm zurückzuverfolgen.
Er starrte vor sich hin, und seine Gedanken wanderten wieder nach Leipzig zurück.
Die Worte, die Lothar bei ihrem letzten Zusammentreffen gesprochen hatte, hatten sich ihm bis auf den heutigen Tag wie ein Brandmal eingeprägt, und so würde es bis zum bitteren Ende bleiben. Drei Worte, die alles sagten.
Sondier deine Umgebung.
Neunundzwanzig
Elínborg und Erlendur meldeten sich nicht vorher an. Sie wussten so gut wie gar nichts über diesen Mann, mit dem sie sich unterhalten wollten. Er hieß Hannes und hatte seinerzeit in Leipzig studiert. Er betrieb ein kleines Hotel in Selfoss und züchtete außerdem Tomaten. Sie fuhren direkt zu seiner Privatadresse und parkten das Auto vor einem Bungalow, der genauso aussah wie die meisten anderen Häuser in dieser kleinen Stadt, nur dass er lange Zeit nicht gestrichen worden war. Neben dem Haus befand sich ein zementiertes Fundament, wo wahrscheinlich eine Garage geplant gewesen war. In dem gepflegten Garten, der voller Sträucher und Stauden war, stand ein kleines Vogelhaus.
Im Garten machte sich ein Mann, den sie für über siebzig hielten, an einem Rasenmäher zu schaffen, der offensichtlich nicht anspringen wollte. Er mühte sich damit ab, das Startkabel zu ziehen, das wie ein langer Wurm in sein Loch zurückschnellte, sobald es losgelassen wurde. Er bemerkte sie erst, als sie unmittelbar vor ihm standen.
»Das Ding taugt wohl nichts«, sagte Erlendur. Er blickte auf den Rasenmäher und inhalierte den Rauch der Zigarette, die er sich angezündet hatte, sobald er aus dem Auto gestiegen war. Elínborg hatte ihm verboten, unterwegs zu rauchen, sein Auto sei sowieso schon eine Zumutung.
Der Mann blickte hoch und musterte die beiden Unbekannten in seinem Garten. Er hatte einen grauen Bart und graue Haare, die schütter zu werden begannen, eine hohe, intelligente Stirn, dichte Augenbrauen und lebhafte braune Augen. Die dicke Hornbrille auf seiner Nase mochte vor einem Vierteljahrhundert in Mode gewesen sein.
»Wer seid ihr?«, fragte er.
»Bist du Hannes?«, fragte Elínborg zurück.
Der Mann bejahte das. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet und betrachtete sie forschend.
»Wollt ihr mir Tomaten abkaufen?«, fragte er.
»Vielleicht«, sagte Erlendur. »Sind sie gut? Elínborg hier ist nämlich Expertin.«
»Hast du nicht in den fünfziger Jahren in Leipzig studiert?«, fragte Elínborg.
Der Mann schaute sie an und antwortete nicht. Es war, als verstünde er die Frage nicht, und erst recht nicht, weshalb sie gestellt wurde. Elínborg wiederholte sie.
»Was ist denn los?«, fragte der Mann. »Wer seid ihr? Warum fragt ihr nach Leipzig?«
»Du bist 1952 dorthin gegangen, nicht wahr?«, fragte Elínborg.
»Das stimmt«, sagte der Mann verblüfft. »Warum fragt ihr danach?«
Elínborg sagte ihm, wer sie waren, und teilte ihm mit, dass der Skelettfund im Kleifarvatn im Frühjahr sie auf die Spur isländischer Studenten in der DDR gebracht hatte. Es sei nur ein Aspekt von vielen, die im Zusammenhang mit diesem Fall untersucht würden, erklärte sie, ohne den russischen Apparat zu erwähnen.
»Ich … was … ich meine …«, sagte Hannes zögernd. »Was hat das mit den Isländern zu tun, die in Deutschland studiert haben?«
»Vielleicht nicht in Deutschland, sondern in Leipzig, um es präzise auf den Punkt zu bringen«, sagte Erlendur. »Wir möchten etwas über einen Deutschen namens Lothar in Erfahrung bringen. Ist dir dieser Name bekannt? Lothar Weiser.«
Hannes blickte ihn so entgeistert an, als sähe er in seinem Garten Gespenster. Seine Blicke wanderten von Elínborg zu Erlendur.
»Ich kann euch nicht behilflich sein«, sagte er.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte Erlendur.
»Tut mir Leid«, erklärte Hannes. »Ich hab das alles vergessen, es ist so lange her.«
»Wir wären dir sehr dankbar, wenn …«, setzte Elínborg an, aber Hannes fiel ihr ins Wort.
»Ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr verschwinden würdet«, sagte er. »Ich bin der Meinung, dass ich euch nichts zu sagen habe. Ich bin keine Hilfe für euch. Es ist lange her, seit ich über Leipzig gesprochen habe, und ich habe nicht vor, jetzt wieder damit anzufangen. Ich habe das alles vergessen, und ich denke nicht daran, mich von euch verhören zu lassen. Das bringt überhaupt nichts.« Er machte sich wieder am Startkabel zu schaffen und fummelte anschließend am Motor herum. Erlendur und Elínborg schauten sich an.