»Warum glaubst du das?«, fragte Erlendur. »Du weißt ja gar nicht, was wir von dir wollen.«
»Nein, und ich will es auch gar nicht wissen. Lasst mich in Ruhe.«
»Es handelt sich doch gar nicht um ein Verhör«, sagte Elínborg. »Aber wenn du möchtest, können wir dich vorladen. Vielleicht findest du das besser.«
»Soll das eine Drohung sein?«, sagte Hannes und blickte von seinem Rasenmäher hoch.
»Was ist denn dabei, ein paar Fragen zu beantworten?«, fragte Erlendur.
»Ich brauche das nicht zu tun, wenn ich es nicht möchte, und ich habe nicht vor, es zu tun«, sagte er. »Auf Wiedersehen.«
Elínborgs Miene nach zu urteilen war sie im Begriff, ihm gehörig die Meinung zu sagen, aber Erlendur packte sie beim Arm und schob sie zum Auto.
»Falls er glaubt, dass er mit so etwas durchkommt …«, begann Elínborg, als sie sich ins Auto setzten, aber Erlendur unterbrach sie.
»Ich mache noch einen Versuch, und wenn das nichts nützt, lassen wir es«, sagte er. »Dann wird er eben vorgeladen.« Er stieg aus und ging wieder zu Hannes hinüber. Elínborg blickte ihm nach. Der Rasenmäher war endlich angesprungen, und Hannes hatte angefangen zu mähen. Er beachtete Erlendur nicht, aber der stellte sich ihm in den Weg und schaltete den Rasenmäher aus.
»Ich habe zwei Stunden gebraucht, um ihn in Gang zu kriegen«, schrie Hannes. »Was soll das eigentlich?«
»Wir müssen das tun«, sagte Erlendur ruhig, »auch wenn keiner von uns es angenehm findet. Leider. Wir können es jetzt erledigen, und zwar schnell, oder wir lassen dich vorladen. Es kann natürlich gut sein, dass du uns dann auch nichts sagen wirst, aber dann laden wir dich wieder und wieder vor, bis du der Polizei kein Unbekannter mehr sein wirst.«
»Ich lasse mich nicht unter Druck setzen!«
»Ich auch nicht«, sagte Erlendur.
Sie standen einander gegenüber mit dem Rasenmäher zwischen sich. Keiner von beiden wollte nachgeben. Elínborg saß im Auto, beobachtete das Tauziehen und schüttelte den Kopf. Männer!
»Na, schön«, sagte Erlendur. »Dann sehen wir uns also in Reykjavik.«
Er drehte sich um und ging zum Auto. Hannes blickte ihm mit gerunzelter Stirn nach.
»Werdet ihr ein Protokoll darüber anfertigen?«, rief er Erlendur hinterher. »Wenn ich mit euch rede?«
»Hast du etwas gegen Protokolle?«, sagte Erlendur, indem er sich umdrehte.
»Ich möchte nicht, dass irgendetwas von dem, was ich sage, verwendet werden kann. Ich möchte nicht, dass es irgendwelche schriftlichen Aufzeichnungen über mich oder darüber gibt, was ich sage. Ich will keine Bespitzelung.«
»Das ist in Ordnung«, gab Erlendur zurück. »Die will ich auch nicht.«
»Ich habe das Ganze jahrzehntelang verdrängt«, sagte Hannes. »Ich habe es vergessen wollen.«
»Was vergessen wollen?«, fragte Erlendur.
»Es waren seltsame Zeiten damals«, sagte Hannes. »Ich habe Lothars Namen schon lange nicht mehr gehört. Was hat er mit den Knochen im Kleifarvatn zu tun?« Erlendur schaute ihn an, ohne zu antworten, und so verging geraume Zeit, bis Hannes sich räusperte und vorschlug, vielleicht lieber ins Haus zu gehen. Erlendur nickte und winkte Elínborg zu.
»Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben«, sagte Hannes, als er die Tür öffnete. Er erklärte, dass seine Kinder in Reykjavik manchmal mit den Enkelkindern einen Sonntagsausflug über den Hellisheiði-Pass machten, um ihn zu besuchen, aber ansonsten hätte er hier seine Ruhe und fühlte sich wohl dabei. Sie erkundigten sich näher nach seinen Verhältnissen und danach, wie lange er schon in Selfoss lebte. Er war vor etwa zwanzig Jahren in diesen Ort gezogen. Davor hatte er als Ingenieur in einem großen Ingenieurbüro gearbeitet, vor allem im Zusammenhang mit den Kraftwerken, die errichtet wurden. Aber als er das Interesse an dieser Tätigkeit verlor, hatte er Reykjavik den Rücken gekehrt und sich in Selfoss niedergelassen.
Nachdem er den Kaffee ins Wohnzimmer gebracht hatte, fragte Erlendur ihn nach Leipzig. Hannes versuchte, ihnen zu schildern, wie es Mitte der fünfziger Jahre dort gewesen war. Nach kurzer Zeit erzählte er ihnen von den Versorgungsmängeln, von freiwilligen Einsätzen, von Trümmersäuberungsaktionen, von den Aufmärschen zum Tag der Republik, vom Staatsratsvorsitzenden Ulbricht, von den sozialistischen Pflichtveranstaltungen, von den Diskussionen der Isländer über den Sozialismus, wie er sich ihnen offenbarte, von parteifeindlichen Umtrieben, von der FDJ, dem sowjetischen Einfluss, von Planwirtschaft, Kollektiven und dem Überwachungsstaat, der dafür sorgte, dass niemand abweichlerische Ansichten äußerte, und sämtliche Opposition im Keim erstickte. Er erzählte ihnen von der Freundschaft, die die isländischen Studenten untereinander verband, von den Idealen, die diskutiert wurden, vom Sozialismus als realistischer Alternative zum Kapitalismus.
»Ich glaube nicht, dass er tot ist«, sagte Hannes auf einmal, so als sei er zu einem Ergebnis gekommen. »Ich glaube, er ist immer noch aktiv, aber in einem anderen Sinne, als wir vielleicht damals glaubten. Der Sozialismus macht es für uns erträglich, mit dem Kapitalismus zu leben.«
»Du bist immer noch Sozialist?«, fragte Erlendur.
»Ich bin es immer gewesen«, sagte Hannes. »Der Sozialismus hat nichts mit dieser unmaskierten Bösartigkeit zu tun, die Stalin daraus gemacht hat, oder mit diesen grotesken Diktaturen, die in Osteuropa entstanden.«
»Aber haben nicht alle in den Jubelchor eingestimmt und der Täuschung Vorschub geleistet?«, fragte Erlendur.
»Ich weiß es nicht«, sagte Hannes. »Ich habe es jedenfalls nicht getan, nachdem ich durchschaut hatte, wie der Sozialismus in der DDR in die Tat umgesetzt wurde. Daraufhin bin ich allerdings abgeschoben worden, weil ich nicht willfährig genug war. Weil ich nicht bereit war, den entscheidenden Schritt zu tun und als Denunziant bei dieser Überwachung von Personen mitzumachen. Sie fanden es in Ordnung, dass Kinder ihre Eltern bespitzelten und meldeten, wenn sie nicht mit der Parteilinie konform gingen.
So etwas hat nichts mit Sozialismus zu tun. Es ist nur die Angst davor, die Macht zu verlieren. Was dann zum Schluss ja auch geschah.«
»Was meinst du damit, den entscheidenden Schritt zu tun?«, fragte Erlendur.
»Sie verlangten von mir, meine isländischen Freunde zu bespitzeln. Ich habe mich geweigert. Aus verschiedenen anderen Gründen hatte ich einen Widerwillen gegen das entwickelt, was ich dort sah und hörte. Ich ging nicht mehr zu den Pflichtveranstaltungen. Ich kritisierte das System. Selbstverständlich nicht öffentlich, das tat man einfach nicht, sondern man kritisierte die Mängel des Systems in kleinen Gruppen von Freunden und Gleichgesinnten, unter guten Bekannten. Es gab oppositionelle Gruppen in der Stadt, junge Leute, die sich heimlich trafen. Ich habe sie kennen gelernt. Habt ihr diesen Lothar im Kleifarvatn gefunden?«
»Nein«, erwiderte Erlendur. »Oder besser, wir wissen nicht, wer das ist.«
»Wer waren diese ›sie‹, die von dir verlangt haben, dass du deine Kameraden bespitzeln solltest?«, fragte Elínborg.
»Zum Beispiel Lothar Weiser.«
»Warum er?«, bohrte Elínborg weiter. »Weißt du das?«
»Angeblich war er auch immatrikuliert, aber das war meines Erachtens kein richtiges Studium, und er hatte völlig freie Hand in allem. Er sprach fließend Isländisch, und es kam einem so vor, als arbeitete er für die SED oder die FDJ, was sowieso alles in einen Topf gehörte. Es war offensichtlich eine von seinen Aufgaben, die Studenten auszuhorchen und sie möglichst zur Mitarbeit zu bewegen.«
»Was für eine Mitarbeit?«, fragte Elínborg.
»Da gab es diverse Möglichkeiten«, sagte Hannes. »Wenn man von jemandem wusste, dass er Westsender hörte, dann sagte man den FDJ-Funktionären Bescheid. Wenn jemand erwähnte, dass er keine Lust hatte, sich für die Aufräumarbeiten in den Trümmern zu melden oder für andere freiwillige Arbeitseinsätze, gab man diese Informationen an sie weiter. Es gab aber auch ernstere Fälle, beispielsweise wenn jemand klassenfeindliche oder staatsgefährdende Äußerungen von sich gab. Falls jemand nicht an den Aufmärschen teilnahm, wertete man das als ein Indiz für parteifeindliche Anschauungen und nicht etwa Faulheit. Alles wurde minutiös überwacht, und Lothar gehörte zu denen, die das organisierten. Wir waren gehalten, unseren gesamten Bekanntenkreis zu bespitzeln. Man zeigte nicht die richtige innere Einstellung, wenn man die anderen nicht denunzierte.«