»Könnte es sein, dass Lothar andere Isländer dazu gebracht hat, da mitzumachen?«, fragte Erlendur. »Dass er von jemand anderem verlangt hat, seine Freunde zu bespitzeln?«
»Es geht nicht um die Frage, ob er das gekonnt hat. Ich bin mir völlig sicher, dass er es versucht hat«, sagte Hannes.
»Ich könnte mir vorstellen, dass er sich jeden Einzelnen vorgeknöpft und es versucht hat.«
»Und?«
»Und nichts.«
»Wurde man dafür belohnt, wenn man zur Mitarbeit bereit war, oder hat man nur aus ideologischen Gründen seine Nächsten bespitzelt?«, fragte Elínborg.
»Es gab diverse Vergünstigungen für diejenigen, die sich bei diesen Leuten lieb Kind machten. Ein schlechter Student, der linientreu und politisch korrekt war, erhielt manchmal höhere Stipendien als ein überdurchschnittlich guter Student mit viel besseren Noten, der sich politisch nicht engagierte. So war das System. Wenn ein unerwünschter Student von der Universität gewiesen wurde, wie es zum Schluss mit mir geschah, war es wichtig für die Kommilitonen, ihre Gesinnung zu offenbaren und sich ausdrücklich zur Parteilinie zu bekennen. Man hatte Vorteile davon, wenn man zeigte, wie parteikonform und linientreu man war. Die FDJ an der Universität sorgte dafür, dass Disziplin herrschte. Andere Studentenvereinigungen waren nicht erlaubt, und die Funktionäre hatten sehr viel Macht. Es wurde übel aufgenommen, wenn man nicht zu den Pflichtveranstaltungen erschien.«
»Du hast erwähnt, dass es oppositionelle Gruppen gab«, sagte Erlendur. »Was …?«
»Ich weiß nicht mal, ob man sie wirklich als Oppositionelle bezeichnen kann«, sagte Hannes. »Es waren zum größten Teil junge Leute, die sich trafen und Westsender hörten. Sie redeten über Elvis und über Westberlin, denn viele waren dort gewesen, oder sogar über Religion, was damals nicht gern gesehen wurde. Doch, es gab aber auch tatsächliche Widerstandsgruppen, die für eine Systemveränderung kämpften, für eine echte Demokratie, für das Recht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit. Gegen sie wurde hart vorgegangen.«
»Du hast gesagt, dass beispielsweise Lothar Weiser an dich herangetreten ist, um dich als Informanten zu gewinnen. Gab es da noch andere?«
»Ja, natürlich«, sagte Hannes. »In dieser Gesellschaft gab es die so genannte gegenseitige Kontrolle, sowohl an der Universität als auch in der allgemeinen Bevölkerung. Die Leute hatten Angst. Die geradlinigen Kommunisten nahmen aus vollster Überzeugung daran teil, während die Zweifler versuchten, sich rauszuhalten und sich irgendwie damit zu arrangieren. Ich bin der Überzeugung, dass außer mir noch viele andere der Meinung waren, dass dieses System das genaue Gegenteil von dem war, wofür der Sozialismus steht.«
»Weißt du, ob einer der Isländer für diesen Lothar gearbeitet hat?«
»Warum wollt ihr das wissen?«, fragte Hannes.
»Wir müssen in Erfahrung bringen, ob er mit irgendwelchen Isländern in Verbindung stand, als er in den sechziger Jahren als Wirtschaftsreferent in Island auftauchte«, sagte Erlendur. »Es handelt sich um eine ganz normale Recherche. Es geht nicht darum, Leute auszuspionieren, sondern nur um Informationen wegen dieses Skelettfunds.« Hannes’ Blick wanderte zwischen Elínborg und Erlendur hin und her.
»Ich wüsste nicht, dass irgendein Isländer etwas mit diesem System zu tun haben wollte, außer vielleicht Emíl«, sagte er. »Ich glaube, dass er ein doppeltes Spiel gespielt hat. Ich habe es Tómas seinerzeit gesagt, als er mich danach fragte. Das war aber viel später, als er mich einmal besucht hat. Da stellte er mir nämlich genau die gleiche Frage.«
»Tómas?«, sagte Erlendur. Er konnte sich an den Namen auf der Liste der isländischen DDR-Studenten erinnern. »Hast du immer noch Verbindung zu diesen Leuten, die mit dir zusammen in Leipzig studierten?«
»Nein, ich habe kaum Kontakt zu ihnen, und habe nie welchen gehabt«, entgegnete Hannes. »Tómas und ich hatten aber eines gemeinsam — wir sind relegiert worden. Er kam genau wie ich nach Island zurück, ohne das Studium abgeschlossen zu haben. Er musste Leipzig verlassen und wurde abgeschoben. Nach seiner Rückkehr hat er mich aufgesucht und mir von seiner Verlobten erzählt, einem ungarischen Mädchen, das Ilona hieß. Ich kannte sie auch ein wenig. Sie hatte nicht viel für Parteidisziplin übrig, um es milde auszudrücken. Sie kam aus einem etwas anderen Umfeld, denn in Ungarn wurden die Dinge damals noch freizügiger gehandhabt. Die jungen Leute sagten offen, was sie über die sowjetische Vorherrschaft dachten, die sich über ganz Osteuropa ausgebreitet hatte.«
»Warum hat er dir von ihr erzählt?«, warf Elínborg ein.
»Er war ein gebrochener Mann, als er zu mir kam«, sagte Hannes. »Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. In Leipzig lernte ich ihn als selbstsicheren jungen Mann kennen, der den Kopf voller sozialistischer Ideale hatte, für die er kämpfte. Er stammte aus einer traditionellen Arbeiterfamilie.«
»Weshalb war er ein gebrochener Mann?«
»Weil sie spurlos verschwand«, sagte Hannes. »Ilona wurde in Leipzig verhaftet, und sie tauchte nie wieder auf. Er war am Boden zerstört. Er sagte mir, dass Ilona schwanger gewesen sei, als sie verschwand. Er hatte Tränen in den Augen, als er darüber redete.«
»Und später ist er noch einmal zu dir gekommen?«, fragte Erlendur.
»Ja, und es war irgendwie seltsam, dass er so viele Jahre später noch einmal kam, um über diese alten Dinge zu reden.
Unsereins hatte das Ganze so gut wie verdrängt, aber Tómas hatte offensichtlich nichts von alledem vergessen.
Er erinnerte sich an alles, an die kleinsten Kleinigkeiten, als sei es erst gestern passiert.«
»Was wollte er?«, fragte Elínborg.
»Er fragte mich nach Emíl«, sagte Hannes. »Ob Emíl für Lothar gearbeitet hätte. Ob sie einen engen Kontakt zueinander gehabt hätten. Ich wusste absolut nicht, weswegen er danach fragte, aber ich habe ihm gesagt, dass ich mir völlig sicher war, dass Emíl großen Wert darauf legte, bei Lothar einen Stein im Brett zu haben.«
»Inwiefern warst du dir sicher?«, fragte Elínborg.
»Emíl war alles andere als eine Leuchte, und er hatte im Grunde genommen eigentlich nichts an der Universität verloren, aber er war überzeugter Sozialist. Alles, worüber wir redeten, wurde direkt an Lothar weitergetragen, und Lothar hat dafür gesorgt, dass Emíl nicht nur ein dickes Stipendium bekam, sondern auch ausgezeichnete Noten hatte. Und Tómas und Emíl waren befreundet.«
»Inwiefern warst du dir sicher?«, wiederholte Erlendur.
»Weil es mir einer der Dozenten an der Uni gesagt hat, als ich mich von ihm verabschiedete. Nachdem ich relegiert wurde. Er fand es bedauerlich, dass ich mein Studium nicht zu Ende bringen konnte. Er sagte mir, dass man im gesamten Lehrkörper darüber gesprochen hätte, denn die Dozenten waren nicht begeistert über solche Studenten wie Emíl. Aber sie konnten nichts dagegen machen. Sie waren auch nicht begeistert über Leute wie Lothar. Dieser Professor sagte mir, dass Emíl großen Wert für Lothar besitzen müsse, denn seine fachlichen Leistungen waren miserabel. Lothar hatte der Univerwaltung zu verstehen gegeben, dass Emíl nicht durchfallen durfte. Es lief über die FDJ, aber Lothar steckte dahinter.« Hannes schwieg eine Weile.