»Emíl war im Gegensatz zu uns ein Hardliner«, sagte er schließlich. »Ein unbeugsamer Kommunist und Stalinist.«
»Weshalb …«, begann Erlendur, aber Hannes, der sich wieder als junger Student in Leipzig zu befinden schien, redete ganz in Gedanken weiter.
»Es hat einen so total überrascht«, sagte er, während er vor sich hin starrte, »dieses ganze System. Wir lernten die Parteidiktatur und Angst und Unterdrückung kennen. Einige versuchten nach ihrer Rückkehr, innerhalb unserer Partei darauf aufmerksam zu machen, aber sie konnten nichts ausrichten. Mir kam es immer so vor, als sei der Sozialismus in der DDR nichts anderes als eine Art Fortsetzung des Nationalsozialismus gewesen. Die Leute standen zwar unter der Fuchtel der Sowjets, aber ich habe ziemlich bald das Gefühl gehabt, dass der Sozialismus in der DDR nur eine andere Version der nationalsozialistischen Unterdrückung war.«
Dreißig
Hannes räusperte sich und blickte sie an. Sie spürten beide, dass es ihm nicht leicht fiel, über sein Studium in Leipzig zu sprechen. Er schien es nicht gewöhnt zu sein, die alten Zeiten wieder aufleben zu lassen. Erlendur hatte ihn dazu gezwungen, sich mit ihnen zu unterhalten.
»Müsst ihr noch mehr wissen?«, fragte er.
»Dieser Tómas kommt also, viele Jahre nachdem er aus Leipzig zurückgekehrt war, hierher und fragt dich nach Emíl und Lothar, und du hast ihm erklärt, du seist davon überzeugt, dass sie unter einer Decke steckten«, sagte Erlendur. »Dass Emíl ihm im Zuge der gegenseitigen Überwachung Informationen zugetragen hat.«
»Ja«, sagte Hannes.
»Warum hat er nach Emíl gefragt, und wer war Emíl?«
»Das hat er mir nicht gesagt, und ich weiß sehr wenig über Emíl. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er im Ausland geblieben ist. Ich glaube, er ist nach dem Studium nicht wie alle anderen nach Island zurückgekehrt. Vor ein paar Jahren habe ich Karl getroffen, der auch mit uns in Leipzig war. Wir waren beide in Skaftafell, und bei unseren Gesprächen kamen natürlich auch viele Dinge aus der Vergangenheit zur Sprache. Er sagte unter anderem, dass Emíl seines Wissens entschlossen gewesen war, nach dem Studium nicht nach Island zurückzugehen. Er hatte auch seitdem nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört.«
»Aber dieser Tómas — weißt du etwas über ihn?«
»Nein, eigentlich nicht. Er hat in Leipzig Ingenieurwissenschaften studiert, aber soweit ich weiß, hat er nie in seinem Fach gearbeitet. Er wurde, wie gesagt, ebenfalls relegiert. Ich habe ihn nur zweimal getroffen, das eine Mal, als er aus der DDR zurückkam, und dann, als er mich wegen Emíl besuchte.«
»Erzähl uns mehr darüber«, bat Elínborg.
»Da gibt es nicht sonderlich viel zu erzählen. Er kam zu Besuch, und wir unterhielten uns über alte Zeiten.«
»Warum war er auf einmal so an diesem Emíl interessiert?«, fragte Erlendur.
Hannes blickte sie nachdenklich an.
»Am besten setze ich noch etwas Kaffee auf«, sagte er und erhob sich.
Hannes sagte ihnen, dass er zu dem Zeitpunkt in einem neuen Reihenhaus im Vogar-Viertel gewohnt habe. Eines Abends klingelte es an der Tür, und als er öffnete, stand Tómas auf der Treppe. Es war Herbst, und draußen war es nass und kalt, der Wind schüttelte die Bäume im Garten, und Regengüsse peitschten das Haus. Hannes brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wer zu Besuch gekommen war. Als ihm klar wurde, dass Tómas vor ihm stand, war er sehr überrascht. Sein Erstaunen war so groß, dass es ihm erst nach einiger Zeit einfiel, Tómas aus dem Regen ins Haus zu bitten.
»Entschuldige, dass ich dich so überfalle«, sagte Tómas.
»Nein, nein, das ist völlig in Ordnung«, sagte Hannes. »Was für ein scheußliches Wetter. Komm doch bitte ins Haus, komm rein.«
Tómas zog sich den Mantel aus, begrüßte Hannes’ Frau und die Kinder, die sich neugierig einfanden, um zu sehen, wer da zu Besuch gekommen war. Er lächelte ihnen zu. Hannes hatte ein kleines Büro im Keller des Hauses, und nachdem sie eine Tasse Kaffee getrunken und über das Wetter geredet hatten, lud er ihn ein, mit nach unten zu kommen. Er sah, dass Tómas etwas auf dem Herzen lag, denn er wirkte unruhig und fahrig und war ein wenig verlegen, so plötzlich bei Leuten hereingeschneit zu sein, die er im Grunde genommen überhaupt nicht kannte. In Leipzig waren sie keineswegs Freunde gewesen. Seiner Frau gegenüber hatte er Tómas nie erwähnt.
Sie ließen sich im Keller nieder und sprachen eine Zeit lang über die Jahre in Leipzig. Sie wussten von einigen, was aus ihnen geworden war, aber nicht von allen. Hannes merkte, wie Tómas sich langsam und vorsichtig seinem eigentlichen Anliegen näherte, und er dachte bei sich, dass er ihn eigentlich sehr nett gefunden hatte. Er sah ihn noch vor sich, wie er das erste Mal in der Universitätsbibliothek auf ihn zugekommen war, er erinnerte sich daran, wie schüchtern und höflich er gewesen war und welchen Eindruck er auf ihn gemacht hatte. Er war der Jungsozialist, der keinen Schatten auf seinen Idealen duldete.
Er wusste von Ilonas Verschwinden und rief sich den ersten Besuch von Tómas ins Gedächtnis, nachdem er als völlig veränderter Mensch aus der DDR zurückgekehrt war und ihm erzählt hatte, was vorgefallen war. Er konnte nicht anders, als Mitleid mit ihm zu haben. Er hatte Tómas im Zorn einen Brief geschrieben, in dem er ihm die Schuld daran gab, dass man ihn von der Universität gewiesen hatte, aber als der erste Zorn verflogen und er wieder nach Island zurückgekehrt war, wurde ihm klar, dass Tómas nicht mehr Schuld daran trug als er selbst, denn er hatte sich gegen das System aufgelehnt. Tómas fing dann an, über den Brief zu reden, und erklärte, dass er nie darüber hinweggekommen sei. Er sagte zu Tómas, er solle nicht mehr über diesen Brief nachdenken, er habe ihn seinerzeit in großer Erregung geschrieben, und was darin stand, stimme einfach nicht. Sie hatten sich dann voll und ganz ausgesöhnt. Tómas hatte sich mit den isländischen Parteibonzen in Verbindung gesetzt, und ihm war versprochen worden, dass man eine Anfrage über Ilonas Verbleib in die DDR schicken würde. Er wurde wegen seiner Relegierung scharf gerügt, weil er seine Stellung und das Vertrauen, das in ihn gesetzt worden war, missbraucht hatte. Er hatte alles zugegeben und bereut. Er hatte ihnen alles gesagt, was sie hören wollten. Sein einziges Ziel war es, Ilona zu helfen. Aber alles war vergebens.
Tómas war zu Ohren gekommen, dass Ilona und Hannes einmal zusammen gewesen seien, weil Ilona angeblich durch Heirat in den Westen gelangen wollte. Hannes entgegnete darauf, dass ihm das vollkommen neu sei, er sei nur zu ein paar Versammlungen gegangen, auf denen er Ilona kennen lernte, und bald darauf hatte er sämtliche politische Betätigung eingestellt.
Und jetzt war Tómas wieder zu ihm gekommen. Zwölf Jahre waren seit dem letzten Besuch vergangen. Er hatte angefangen, über Lothar zu reden, und schien jetzt endlich auf sein Anliegen zuzusteuern.
»Ich möchte dich gern etwas über Emíl fragen«, sagte Tómas. »Du weißt, dass wir in Deutschland befreundet waren.«
»Ja, das weiß ich«, sagte Hannes.
»Kann es sein, dass Emíl … dass Emíl irgendwelche besonderen Verbindungen zu Lothar gehabt hat?«
Er nickte. Es war nicht seine Art, hinter dem Rücken von Leuten schlecht über sie zu sprechen, aber von Freundschaft zwischen Emíl und ihm konnte keine Rede sein, denn er glaubte zu wissen, was Emíl für ein Mensch war. Er berichtete Tómas davon, was sein Professor über Emíl und Lothar gesagt hatte und dass es ihm eine Art Bestätigung für den Verdacht gewesen war, dass Emíl sich aus vollster Überzeugung heraus an der Überwachung von Personen beteiligt und von seiner bedingungslosen Loyalität der Partei und der FDJ gegenüber profitiert hatte.
»Hast du je darüber nachgedacht, ob Emíl Anteil daran gehabt hat, dass du die Uni verlassen musstest?«
»Das ließ sich nicht feststellen. Eigentlich hätte damals jeder der FDJ Meldung machen können, mehr als nur einer, sogar mehr als zwei. Ich habe dir damals die Schuld daran gegeben, wie du weißt, und dir diesen Brief geschrieben. Es ist immer so kompliziert, mit Leuten zu reden, wenn man nicht weiß, was man sagen darf. Aber ich habe mich nicht weiter da hineingesteigert. Das ist längst vorbei. Vergraben und vergessen.«