»Weißt du schon, dass Lothar im Lande ist?«, fragte Tómas plötzlich.
»Lothar? Hier in Island? Nein.«
»Er hat irgendeine Verbindung zur DDR-Vertretung, vielleicht hat er da einen Posten inne oder so etwas. Ich habe ihn ganz zufällig getroffen, eigentlich auch gar nicht getroffen, sondern ich habe ihn nur gesehen. Er war auf dem Weg in die Botschaft. Ich wohne da in der Nähe und machte gerade einen Spaziergang. Ich war zwar ein ganzes Stück von ihm entfernt, aber er war es, wie er leibt und lebt. Er hat mir einmal gesagt, ich soll meine Umgebung sondieren, als ich ihm vorwarf, an Ilonas Verschwinden schuld zu sein. Und ich begriff damals nicht, was er meinte. Ich glaube, ich verstehe es jetzt.« Beide schwiegen.
Er schaute Tómas an und spürte, dass sein alter Kommilitone ganz allein auf der Welt war. Er hätte gern etwas für ihn getan.
»Wenn ich dir mit etwas hel … Wenn ich etwas für dich tun kann …«
»Hat dein Professor dir wirklich gesagt, dass Lothar und Emíl unter einer Decke steckten und Emíl davon profitiert hat?«
»Ja.«
»Weißt du, was aus Emíl geworden ist?«, fragte Tómas. »Lebt er nicht im Ausland? Ich glaube, er ist nach dem Studium nie zurückgekommen.« Geraume Zeit herrschte Schweigen.
»Diesen Quatsch über Ilona und mich, den du erwähnt hast, wer hat dir das erzählt?«
»Das war Lothar«, sagte Tómas.
Hannes zögerte.
»Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen soll«, sagte er schließlich, »aber mir ist etwas ganz anderes zu Ohren gekommen, kurz bevor ich wegging. Du warst völlig verstört, als du aus der DDR zurückkamst, deswegen wollte ich dir nicht irgendwelche Klatschgeschichten erzählen. Von denen gibt es immer mehr als genug. Was mir zu Ohren kam, war, dass Emíl hinter Ilona her war, bevor ihr zueinander fandet.«
Tómas starrte ihn an.
»Das habe ich gehört«, sagte Hannes, der bemerkte, wie Tómas erbleichte. »Es muss aber keineswegs stimmen.«
»Willst du damit sagen, dass sie zusammen waren, bevor Ilona und ich …?«
»Nein, sondern nur, dass er hinter ihr her war. Er ist dauernd um sie herumgeschlichen, bei der Trümmersäuberung, und …«
»Emíl und Ilona?«, stöhnte Tómas ungläubig, als könne er sich keinen Reim darauf machen.
»Er war hinter ihr her, das war das Einzige, was ich gehört habe, mehr nicht«, beeilte sich Hannes zu versichern, der seine Worte schon wieder bereute. An Tómas’ Miene konnte er ablesen, dass es besser gewesen wäre, das nicht zu erwähnen.
»Wer hat dir das gesagt?«, fragte Tómas.
»Daran kann ich mich nicht erinnern, und es kann gut sein, dass es gar nicht stimmt.«
»Emíl und Ilona? Und sie hat nichts mit ihm zu tun haben wollen?«, fragte Tómas.
»Genau«, sagte Hannes. »Das habe ich gehört. Sie hat sich überhaupt nicht für ihn interessiert. Das hat Emíl ihr übel genommen.«
Sie schwiegen.
»Ilona hat dir gegenüber nichts davon erwähnt?«
»Nein«, sagte Tómas. »Das hat sie nie erwähnt.«
»Und dann ist er gegangen«, sagte Hannes und schaute Elínborg und Erlendur an. »Seitdem habe ich ihn nicht gesehen, und ich habe keine Ahnung, ob er überhaupt noch am Leben ist.«
»Das muss eine scheußliche Erfahrung für euch in Leipzig gewesen sein«, sagte Erlendur.
»Das Schlimmste waren diese unerträgliche Bespitzelung und dieses ewige Misstrauen. Aber daneben gab es auch einige positive Seiten. Die meisten von uns haben sich nicht mit der Hochglanzfassade des Sozialismus identifiziert, sondern nur versucht, sich mit den Nachteilen zu arrangieren. Einige wurden besser damit fertig als andere. Ausbildung und Erziehung in der DDR waren vorbildlich. Die Kinder von Arbeitern und Bauern waren an der Universität in der Mehrheit. Wo hat es das sonst je gegeben?«
»Warum kam Tómas nach all diesen Jahren, um dich nach Emíl zu fragen?«, sagte Elínborg. »Meinst du, dass er Emíl getroffen haben könnte?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Hannes. »Davon hat er mir nichts gesagt.«
»Diese Ilona«, sagte Erlendur, »weiß man, was aus ihr geworden ist?«
»Ich glaube nicht. Es waren besondere Zeiten damals wegen der Zustände in Ungarn, wo alles eskalierte. Sie wollten um jeden Preis verhindern, dass der Aufstand auf andere kommunistische Staaten übergriff. Es gab keinen Raum für freie Meinungsäußerung oder eine kritische Diskussion. Meines Erachtens nach weiß niemand, was mit Ilona geschah. Tómas hat es nie in Erfahrung gebracht. Oder zumindest glaube ich das nicht, obwohl es mich letzten Endes auch gar nichts angeht. Diese ganze Zeit geht mich nichts mehr an. Ich habe das alles längst hinter mir gelassen, und ich möchte am liebsten nicht darüber sprechen.
Es waren unselige Zeiten.«
»Wer hat dir das über Emíl und Ilona erzählt?«, fragte Elinborg.
»Er heißt Karl«, sagte Hannes.
»Karl?«, wiederholte Elínborg.
»Ja«, sagte Hannes.
»War er auch in Leipzig?«, fragte sie.
Hannes nickte.
»Kannst du dir vorstellen, dass irgendwelche Isländer in den sechziger Jahren so etwas wie ein russisches Abhörgerät in ihrem Besitz gehabt haben könnten?«, fragte Erlendur. »Leute, die sich hier auf Island mit Spionage abgegeben haben?«
»Ein russisches Spionagegerät?«
»Ja. Ich kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr dazu sagen. Fällt dir da jemand ein?«
»Also, wenn Lothar zu dieser Zeit hier in der DDR-Vertretung tätig war, käme er natürlich in Frage«, sagte Hannes.
»Ich kann mir nicht vorstellen … ihr … ihr meint doch nicht etwa, dass es einen isländischen Spion gab?«
»Nein, ich glaube, das wäre äußerst abwegig«, sagte Erlendur.
»Wie ich gesagt habe, ich kenne mich da absolut nicht aus. Ich habe so gut wie überhaupt keine Verbindung zu den anderen gehabt, die in Leipzig studierten. Und in russischen Spionageangelegenheiten kenne ich mich erst recht nicht aus.«
»Du hast nicht zufällig ein Foto von Lothar Weiser?«, fragte Erlendur.
»Nein, das habe ich nicht. Ich besitze nicht viel, was mich an diese Zeiten erinnert.«
»Dieser Emíl muss ja wohl ein sehr mysteriöser Typ gewesen sein«, sagte Elínborg.
»Kann gut sein. Wie gesagt, ich glaube, dass er die ganze Zeit im Ausland gelebt hat. Allerdings habe ich … das letzte Mal, als ich ihn sah … Es war um die Zeit herum, als Tómas zu diesem seltsamen Besuch kam. Ich habe Emíl für einen winzigen Augenblick im Zentrum von Reykjavik gesehen.
Ich hatte ihn zwar seit Leipzig nicht getroffen, und es war auch nur für einen kurzen Moment, aber es war bestimmt Emíl. Doch wie gesagt, mehr weiß ich nicht über diesen Mann.«
»Du hast aber nicht mit ihm gesprochen?«, fragte Elínborg.
»Mit ihm gesprochen? Nein, das war gar nicht möglich. Er stieg in ein Auto und fuhr los. Ich habe ihn nur flüchtig gesehen, aber er war es ganz bestimmt. Ich kann mich gut erinnern, denn ich war einigermaßen erschrocken, als ich ihn sah.«
»Kannst du dich erinnern, was für ein Auto das war?«
»Was für ein Auto?«
»Ich meine, welche Marke, welche Farbe?«
»Es war schwarz«, sagte Hannes. »Ansonsten versteh ich nichts von Autos. Aber es war schwarz, daran erinnere ich mich.«
»Könnte es ein Ford gewesen sein?«, fragte Erlendur.
»Ich weiß es nicht.«
»Ein Ford Falcon?«
»Wie ich gesagt habe, ich erinnere mich nur daran, dass es schwarz war.«