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Warum ist das nur alles so gekommen?«

»Man versucht, seine Haut zu retten«, sagte Lothar. »Das ist das Einzige, was man tun kann.«

»Was wirst du ihnen über Emíl sagen? Wie willst du das erklären, was passiert ist?«

»Ich werde ihnen sagen, dass ich ihn so vorgefunden und keine Ahnung habe, was da vorgefallen ist. Das schlucken sie schon. Aber jetzt hau ab! Raus mit dir, bevor ich es mir anders überlege!«

»Weißt du, was aus Ilona geworden ist? Kannst du mir etwas über Ilonas Schicksal sagen?«

Er stand bereits an der Tür des Schuppens, als er sich noch einmal umdrehte und nach dem fragte, was ihn die ganzen Jahre gequält hatte. Als würde eine Antwort ihm dabei helfen, sich mit dem Unabänderlichen abzufinden.

»Ich weiß nicht viel«, sagte Lothar. »Ich habe gehört, dass sie versucht hat, zu fliehen. Sie wurde in ein Krankenhaus gebracht. Mehr weiß ich nicht.«

»Aber weshalb hat man sie verhaftet?«

»Das weißt du ganz genau«, sagte Lothar. »Sie war kein Unschuldsengel. Sie ist selber das Risiko eingegangen, und sie wusste, was sie tat. Sie war gefährlich, sie hat zu einem konterrevolutionären Putsch angestachelt. Sie hat gegen die Partei gearbeitet. Nach den Erfahrungen mit dem Volksaufstand von 1953 wollten sie nicht, dass sich so etwas wiederholte.«

»Aber …«

»Sie wusste, auf welches Risiko sie sich eingelassen hatte.«

»Was ist aus ihr geworden?«

»Hör damit auf und verschwinde!«

»Ist sie tot?«

»Ganz bestimmt«, sagte Lothar und betrachtete nachdenklich den schwarzen Kasten mit den kaputten Armaturen.

Auf dem Tisch sah er ein Schlüsselbund mit Autoschlüsseln und einem Ford-Anhänger.

»Die Polizei hier muss glauben, dass er aufs Land gefahren ist«, sagte er wie zu sich selbst. »Ich muss meine Leute überzeugen. Das könnte schwierig werden. Sie glauben sowieso kaum noch etwas von dem, was ich sage.«

»Warum nicht? Warum glauben sie dir nicht?« Lothar lächelte.

»Ich bin etwas unartig gewesen. Und das wissen sie, glaube ich.«

Sechsunddreißig

Erlendur stand in der Garage in Kópavogur und betrachtete den Ford Falcon. In der Hand hielt er die Radkappe. Dann bückte er sich und hielt sie an das Vorderrad. Sie passte. Die Frau hatte ziemlich verwundert dreingeschaut, als Erlendur wieder auftauchte, aber sie hatte ihn in die Garage gelassen und ihm geholfen, die schwere Zeltplane abzunehmen. Erlendur trat einen Schritt zurück und ließ seine Blicke über den schwarzen Lack, die kreisrunden Rücklichter, die weißen Polster und das große, elegante Steuerrad gleiten. Auf einmal verspürte er einen Wunsch, den er seit langem nicht mehr in sich gefühlt hatte. »Das ist also die ursprüngliche Radkappe?«, fragte die Frau.

»Ja«, sagte Erlendur, »wir haben sie gefunden.«

»Da habt ihr aber gute Arbeit geleistet«, sagte die Frau.

»Meinst du, dass er noch anspringt?«

»Das hat er das letzte Mal getan, soweit ich weiß«, sagte die Frau. »Weshalb fragst du?«

»Das Auto hat schon was«, sagte Erlendur. »Ich habe überlegt … falls er immer noch zum Verkauf steht, dass ich …«

»Zum Verkauf?«, unterbrach ihn die Frau. »Seit mein Mann gestorben ist, habe ich versucht, das Ding zu verkaufen, aber niemand hat sich dafür interessiert. Ich habe sogar Anzeigen in die Zeitung gesetzt, aber da riefen nur so ein paar komische Kerle an, die nichts bezahlen wollten. Sie glaubten, dass ich ihnen das Auto schenken würde! So weit kommt es noch, dass ich dieses Auto verschenke!«

»Was willst du dafür haben?«, fragte Erlendur.

»Musst du nicht zuerst ausprobieren, ob er anspringt und so?«, erwiderte die Frau. »Du kannst ihn gern ein paar Tage Probe fahren. Ich muss mit meinen Söhnen sprechen, die haben mehr Ahnung davon als ich. Ich verstehe absolut nichts von Autos. Ich weiß bloß, dass es mir nicht im Traum einfallen würde, das Auto zu verschenken. Ich will einen anständigen Preis dafür bekommen.« Erlendur dachte an seine rostzerfressene japanische Klapperkiste. Er hatte nie nach Besitztümern gestrebt, denn er sah keinen Sinn darin, tote Gegenstände um sich herum anzuhäufen, aber dieser Falcon gefiel ihm. Vielleicht war es die Vergangenheit dieses Autos, seine Verbindung zu einem rätselhaften Vermisstenfall, der einige Jahrzehnte zurücklag. Aus irgendwelchen Gründen hatte Erlendur das Gefühl, dieses Auto besitzen zu müssen. Sigurður Óli konnte sein Erstaunen kaum verhehlen, als Erlendur ihn am nächsten Mittag abholte. Der Falcon war sofort angesprungen. Die Frau hatte erklärt, dass ihre Söhne regelmäßig vorbeikämen und eine Runde mit ihm drehten, auch wenn sie keinerlei Interesse an Oldtimern hatten. Erlendur war schnurstracks zu einer Ford-Werkstatt gefahren und hatte das Auto durchchecken lassen. Ihm wurde gesagt, der Wagen sei so gut wie neu, die Sitze seien nur wenig verschlissen, die Armaturen funktionierten alle einwandfrei, und obwohl das Auto lange Zeit gestanden hatte, sei es in gutem Zustand. »Was geht ab bei dir?«, fragte Sigurður Óli. »Was geht ab?«

»Was willst du mit diesem Auto?«

»Damit fahren«, sagte Erlendur und gab Gas.

»Darfst du das? Ist das nicht eine Art Beweisstück?«

»Wird sich zeigen.«

Sie wollten einen weiteren der ehemaligen Leipziger Studenten aufsuchen, Tómas, von dem Hannes ihnen berichtet hatte. Morgens hatte Erlendur Marian Briem besucht.

Und Marian hatte sich nach Eva Lind und dem Kleifarvatn-Fall erkundigt.

»Hast du deine Tochter gefunden?«

»Nein«, hatte Erlendur gesagt, »ich weiß nichts von ihr.« Sigurður Óli erzählte Erlendur, dass er sich interessehalber im Internet über die Wirksamkeit des Staatssicherheitsdienstes in der ehemaligen DDR kundig gemacht hatte.

Dort hatten die Machthaber ein praktisch perfektes System der Bürgerüberwachung aufgebaut. Stasizentralen gab es in insgesamt 41 Gebäuden, 1181 weitere Häuser standen für die inoffiziellen Mitarbeiter zur Verfügung, 305 Ferienhäuser, 98 Sporteinrichtungen und 18000 Wohnungen für Besprechungen mit Informanten. 97000 Menschen arbeiteten für die Stasi, 2171 waren damit beschäftigt, Briefe zu öffnen, 1486 bauten Telefonabhöranlagen ein, 8426 Menschen hörten Telefone und Rundfunksender ab. Die Stasi hatte über 100000 offizielle und inoffizielle Mitarbeiter.

1000000 Menschen gaben Informationen weiter, und es gab Akten über 6000000 Menschen. Und innerhalb des Staatssicherheitsdienstes existierte eine eigene Abteilung zur Überwachung der Stasimitarbeiter.

Sigurður Óli war genau in dem Augenblick mit der Aufzählung fertig, als sie vor der Tür zu Tómas Haus standen.

Es war ein kleines einstöckiges Haus, das unterkellert war.

Es wirkte von außen alt und renovierungsbedürftig. Das Wellblechdach war fleckig und an den Rändern über der Dachrinne verrostet. Die Wände hatten Risse, und das Haus war lange nicht gestrichen worden. Der Garten, der es umgab, war völlig vernachlässigt. Das Haus hatte aber eine wunderbare Lage mit Blick aufs Meer, und Erlendur genoss die Aussicht. Sigurður Óli drückte zum dritten Mal auf den Klingelknopf. Niemand schien zu Hause zu sein.

Erlendur sah ein Schiff am Horizont. Ein Mann und eine Frau gingen rasch auf dem Bürgersteig vor dem Haus vorbei. Der Mann machte größere Schritte als die Frau, die, so gut es ging, mit ihm Schritt zu halten versuchte. Sie redeten miteinander, er über die Schulter, aber sie musste lauter sprechen, damit er sie hören konnte. Keiner von beiden bemerkte die beiden Kriminalbeamten vor dem Haus.

»Das bedeutet also, dass dieser Emíl in Leipzig und Leopold ein und dieselbe Person gewesen sind«, sagte Sigurður Óli und klingelte noch einmal. Erlendur hatte ihm berichtet, was er auf dem Hof der Brüder in Mosfellssveit ausgegraben hatte.

»Sieht so aus«, sagte Erlendur.

»Ist er der Mann im Kleifarvatn?«

»Möglich.«