Von der Granitnadel aus betrachtet, schien das Lager der Aufständischen unglaublich nah, fast so, als könne man mit einem kräftigen Sprung mitten darin landen. Julius ließ den Blick darüber wandern und fragte sich, ob die beiden sie zurückkehren lassen würden, ehe der Zenturio der Torwache sie als abwesend meldete.
Der Mann barg das Messer in seiner Tunika, ließ sich neben Julius nieder und folgte seinem Blick. »Die größte Armee, die ich je gesehen habe«, sagte er fröhlich und zeigte zum Rebellenlager hinüber. »Ich würde sagen, das wird morgen sehr schwer für euch.«
Julius erwiderte nichts, wollte sich nicht zu einer Diskussion verleiten lassen. Insgeheim hatte er den gleichen Eindruck. Das feindliche Lager war fast zu groß, um es mit einem Blick zu erfassen, und es sah aus, als könne es die acht Legionen mühelos schlucken.
Brutus und der Ringer waren stehen geblieben und beäugten einander misstrauisch. Der Mann mit dem Messer grinste, als er sie ansah.
»Setzt euch doch, ihr zwei«, sagte er mit einem Kopfnicken. Widerwillig rückten sie zusammen und setzten sich angespannt dicht nebeneinander.
»Ihr müsst so an die dreißig- oder vierzigtausend Mann haben, stimmt’s?«, erkundigte sich der Ringer bei Brutus.
»Rate nur weiter«, erwiderte Brutus kurz angebunden, und der Mann wollte erneut aufstehen, wurde aber von einer kurzen Berührung seines Gefährten zurückgehalten.
»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Wir zerstreuen die Römer in alle Winde, egal wie stark sie sind.« Er grinste Julius an. Zweifellos hoffte er, dieser würde sich bei dieser Bemerkung erheben. Aber Julius ignorierte ihn. Er war damit beschäftigt, sich die wenigen Einzelheiten des Lagers einzuprägen, die er im schwachen Licht erkennen konnte. Er sah, dass der Mond inzwischen tief gesunken war und stand langsam auf, um seine merkwürdigen Gefährten nicht zu erschrecken.
»Wir müssen jetzt wieder zurück«, sagte er. Die Anspannung kehrte wieder und verkrampfte seine schmerzenden Muskeln.
»Ja. Ich denke, das geht uns allen so«, erwiderte der Mann mit dem Messer und erhob sich geschmeidig. Er war mit Abstand der Größte von ihnen und bewegte sich mit einer Eleganz, die den Krieger in ihm verriet. Auch Brutus bewegte sich so, und vielleicht war es diese unbewusste Erkenntnis, die den Mann mit der Ringerstatur sofort gereizt hatte.
»Diese Begegnung war… sehr interessant. Ich hoffe, wir beide begegnen uns morgen nicht«, sagte Julius.
»Ich hoffe, wir beide begegnen uns«, raunte Brutus dem Ringer zu, der nur abfällig schnaubte.
Der Mann mit dem Messer reckte den Rücken und verzog das Gesicht. Dann klopfte er Julius auf die Schulter und lächelte.
»Das liegt in den Händen der Götter, meine jungen Freunde. Aber jetzt finde ich, dass mein Gefährte und ich als Erste hinabklettern sollten, meint ihr nicht? Ich möchte wirklich nicht, dass ihr euch euren kleinen Waffenstillstand noch einmal anders überlegt, sobald ihr eure Schwerter wieder in den Händen haltet. Stellt euch dort drüben hin, wo ihr heraufgeklettert seid, und wir sind gleich verschwunden.«
Die beiden älteren Männer kletterten mit geschmeidigen Bewegungen außer Sicht und waren fort.
Brutus stieß prustend den Atem aus. »Ich dachte, jetzt sind wir tot.«
»Ich auch. Glaubst du, das war Spartacus?«
»Möglich. Jedenfalls wird er es sein, wenn ich die Geschichte erzähle.« Brutus fing an zu lachen. Er musste die schreckliche Anspannung irgendwie loswerden.
»Wir sollten uns lieber auf den Weg machen, sonst serviert uns dieser Wachposten Pompeius auf einem Tablett«, sagte Julius, ohne auf seine Worte einzugehen. Rasch kletterten sie hinab und ertrugen die Kratzer und Schrammen des Abstiegs ohne einen Laut. Ihre Sandalen lagen noch dort, wo sie sie zurückgelassen hatten, aber die beiden Schwerter waren weg. Brutus suchte im Gestrüpp danach, kam jedoch mit leeren Händen zurück.
»Elende Saubande. Es gibt einfach keine Ehre mehr.«
38
Zwei Stunden vor Tagesanbruch brachen die Legionen das Lager ab und stellten sich in Schlachtformation auf. Sobald es hell genug war, ertönte das laute Gellen der Signalbläser, und die gewaltigen Quadrate aus Legionären setzten sich in Bewegung und schüttelten die letzten Verspannungen des frühen Morgens beim Marschieren ab. Nun, da das Heer des Spartacus die gesamte Ebene ausfüllte und sich scheinbar bis zum Horizont erstreckte, gab es kein müßiges Geschwätz in den Reihen mehr, sogar das Dröhnen der Sandalen wurde vom Gras gedämpft, und jeder Mann lockerte die Schultern, als sie dem Augenblick, an dem die Stille in Chaos umschlagen würde, näher und näher kamen.
Entlang der lang gezogenen Reihen der Legionen wurden die schweren Speerwurfmaschinen und Katapulte in Stellung gebracht. Über gewaltige Entfernungen konnten Steine, Eisenkugeln und Pfeile vom Gewicht dreier Männer mitten unter die Feinde geschleudert werden. Die Männer rings um die Geschütze jubelten, als die schweren Rosshaarfedern schussbereit gespannt wurden.
Julius marschierte neben Brutus und Ciro, Renius ging einen Schritt hinter ihm. Obwohl es für die Rekruten Catos reiner Selbstmord gewesen wäre, einen Anschlag zu versuchen, waren die drei Männer rings um Julius auf diese Möglichkeit gefasst. Hier war kein Platz für Cabera, der, ungeachtet seiner Proteste, beim Tross im Lager zurückgeblieben war. Julius war unerbittlich gewesen, denn obwohl der alte Mann sogar gewillt war, eine Rüstung anzulegen und einen Gladius zu tragen, hatte er doch noch nie als Legionär gekämpft und würde die Routine der Römer ringsum stören.
Tief in der achten Reihe hinter den schwer bewaffneten Hastati waren die vier von den besten Kämpfern der Primigenia umgeben, Männer, die Renius ausgebildet und für einen solchen Tag gehärtet hatte. Keiner von Catos Rekruten befand sich in unmittelbarer Nähe.
Obwohl es viele danach gelüstete, zum Angriff zu stürmen, passten sie sich dem Schritt der vordersten Linie an. Zähne wurden unbewusst aufeinander gepresst, als die Männer alles Weltliche hinter sich ließen. Jeder Anflug von Gewalttätigkeit, den sie in den Städten unterdrücken mussten, war hier in diesen Reihen willkommen, und einige der Männer unterdrückten bei dem Gedanken an die seltsame Freiheit des Kampfes ein dumpfes Lachen.
Dann kam der Befehl zum Anhalten, und Sekunden später zerriss der Donner der Kriegsmaschinen die Luft. Mächtige Arme krachten gegen ihre Auflagen und schleuderten ihre Ladungen in hohem Bogen über die eigenen Reihen hinweg. Die Sklaven konnten dem Hagel aus Steinen und Eisen nicht entfliehen, Hunderte wurden zu blutigen Klumpen zerquetscht. Langsam wurden die Katapultarme mit Winden wieder zurückgebogen. Pompeius leckte sich die trockenen Lippen und wartete darauf, das Signal zu geben.
Nach der dritten Salve kam der Befehl zum Vorrücken. Ehe die vordersten Linien aufeinander trafen, würde noch eine Salve über ihre Köpfe hinweg abgefeuert werden.
Als sich die Armeen einander näherten, streiften die Legionäre die dünne Haut der Zivilisation ab; jetzt hielt sie nur noch die Disziplin der Legion davon ab, vor Mordlust aus den eigenen Reihen auszubrechen. Durch die Lücken in den Reihen vor ihnen erhaschten sie kurze Blicke auf den Feind, der sie erwartete, eine dunkle Mauer aus Männern, die dort standen, um die Stärke der letzten Verteidiger Roms auf die Probe zu stellen. Einige trugen den Gladius, andere schwenkten Äxte und Sicheln, hier und da waren auch Langschwerter zu sehen, die sie aus den Quartieren der Legion von Mutina gestohlen hatten. Blutige Schlieren auf dem Boden markierten die breiten Schneisen, die die Wurfsteine gerissen hatten, doch sie wurden rasch von den Männern dahinter geschlossen.