Trotzdem zweifelte er nicht daran, dass sie immer schwächer wurde. Auch jetzt fiel ihm wieder auf, dass sie nicht gemeinsam mit den anderen aß. Sanft schob er einen Teller mit frischem, knusprigem Brot auf ihre Seite des niedrigen Tisches, und ihre Blicke trafen sich kurz. Sie nahm ein Stück in die Hand, brach etwas davon ab und kaute langsam darauf herum, aber nur, weil er ihr dabei zusah. Angeblich löste Essen ihre Anfälle aus; sie behauptete, ihr werde dann übel und sie müsse sich übergeben. Sie hatte einfach den Appetit verloren, und noch bevor er das richtig bemerkt hatte, hatte sie schon bedenklich an Gewicht verloren und nahm kaum noch etwas zu sich.
Sie schwand vor seinen Augen dahin, und was er auch sagte, wenn sie beide alleine waren, sie fing stets an zu weinen und sagte dann, sie könne einfach nicht essen. Für Essen sei kein Platz in ihr.
Clodia kitzelte das Kind wieder und wurde dafür mit einem Schwall erbrochener Milch belohnt. Alle drei Frauen standen gleichzeitig auf, um die Bescherung zu beseitigen. Auch Tubruk erhob sich. Er fühlte sich zwar irgendwie ausgeschlossen, doch das machte ihm wirklich nichts aus.
»Ich wünschte, ihr Vater wäre hier, um sie aufwachsen zu sehen«, sagte Cornelia wehmütig.
»Er wird kommen«, sagte Tubruk beruhigend. »Diejenigen, für die sie Lösegeld verlangen, müssen sie am Leben erhalten, sonst würden sie sich ja selbst um die Einnahmen bringen. Für die ist das nur ein Geschäft wie jedes andere. Julius kommt bald wieder nach Hause, und jetzt, wo Sulla tot ist, kann er wieder ganz neu anfangen.«
Seine Worte schienen ihr mehr Hoffnung zu geben als ihm selbst. Tubruk wusste, dass Julius, selbst wenn er wieder zurückkam, so oder so nie wieder derselbe sein würde wie bei seiner Abreise. Den jungen Mann, der zur See gegangen war, um Sulla zu entkommen, gab es nicht mehr. Wer an seiner Stelle zurückkehren würde, musste sich erst noch herausstellen. Und nachdem sie die gewaltige Lösegeldsumme für ihn bezahlt hatten, würde das Leben für sie alle sehr schwer werden. Tubruk hatte einen Teil der Ländereien an die Familie des Suetonius verkauft, die den Kaufpreis rücksichtslos gedrückt hatte, da sie durch ihre eigene Lösegeldforderung genau wussten, in welcher Zwangslage Tubruk steckte. Er seufzte. Wenigstens konnte Julius sich über eine Tochter und eine liebende Frau freuen. Das war mehr, als Tubruk hatte.
Er schaute zu Clodia hinüber und merkte jetzt erst, dass sie ihn beobachtete. Etwas in ihrem Gesichtsausdruck ließ ihn erröten wie einen kleinen Jungen. Sie zwinkerte ihm kurz zu, ehe sie sich wieder umdrehte, um Cornelia zu helfen. Tubruk fühlte sich merkwürdig unbehaglich. Eigentlich hätte er jetzt zu den Arbeitern hinausgehen müssen, die auf seine Befehle warteten. Stattdessen blieb er sitzen, nahm sich noch eine Scheibe Brot und kaute absichtlich langsam, denn er hoffte insgeheim, Clodia würde noch einmal zu ihm hersehen.
Plötzlich begann Aurelia leicht zu schwanken. Tubruk sprang auf und hielt sie an den Schultern fest. Sie war beängstigend blass geworden, ihre Haut sah aus wie Wachs. Unter dem Stoff der Stola spürte er, wie mager sie geworden war, und wieder erfasste ihn seine ständige Trauer um sie.
»Du solltest dich ausruhen«, sagte er leise. »Ich bringe dir nachher noch etwas zu essen.«
Sie gab keine Antwort. Ihre Augen hatten wieder diesen glasigen, verlorenen Blick angenommen. Willenlos und mit schlurfenden, kraftlosen Schritten ließ sie sich von ihm vom Tisch wegführen. Er spürte das Zittern, das erneut einsetzte. Jeder neue Anfall schwächte sie mehr.
Cornelia und Clodia blieben mit dem Kind allein, das an Cornelias Kleid zupfte und nach der Brustwarze suchte.
»Er ist ein guter Mann«, sagte Clodia und schaute nachdenklich auf die Tür, durch die Tubruk und Aurelia hinausgegangen waren.
»Ein Jammer, dass er für einen Ehemann schon zu alt ist«, erwiderte Cornelia mit gespieltem Ernst.
Clodia kniff die Lippen zusammen.
»Zu alt? Bei den Dingen, auf die es ankommt, ist er immer noch stark genug«, gab sie scharf zur Antwort. Dann aber sah sie Cornelias belustigten Blick und errötete. »Du siehst zu viel, Mädchen. Lass lieber das Kind trinken.«
»Sie hat einfach immer Hunger«, sagte Cornelia seufzend und hob Julias kleines Gesicht an ihre Brust.
»Das hilft einem, sie lieb zu gewinnen«, sagte Clodia mit einem eigenartigen Unterton, und als Cornelia fragend den Blick hob, sah sie Tränen in ihren Augen.
Drinnen, im abgedunkelten und kühlen Schlafzimmer, hielt Tubruk Aurelia fest, bis der Anfall endlich abgeklungen war. Ihre Haut war fiebrig heiß, und wieder schüttelte er besorgt den Kopf, weil sie so dünn geworden war. Nach einer Weile erkannte sie ihn schließlich wieder, und er ließ sie in die weichen Kissen zurücksinken.
In der Nacht, als ihr Ehemann beerdigt worden war, hatte er sie zum ersten Mal so gehalten, und seither war es zu einem Ritual zwischen ihnen geworden. Er wusste, dass seine Stärke sie beruhigte, und sie hatte jetzt auch weniger Prellungen, weil ihre ziellos um sich schlagenden Glieder in seiner Umklammerung keinen Schaden anrichten konnten. Überrascht stellte er fest, dass er selbst vor Anstrengung keuchte. Es war ihm nach wie vor ein Rätsel, wie in einem so ausgemergelten Körper noch so viel Kraft stecken konnte.
»Danke«, flüsterte sie mit halb geöffneten Augen.
»Das war nicht der Rede wert. Ich hole dir etwas Kühles zu trinken und lasse dich dann schlafen.«
»Lass mich bitte nicht allein, Tubruk«, flüsterte sie.
»Ich habe dir doch versprochen, dass ich auf dich aufpasse. Ich bleibe so lange hier, wie du mich brauchst«, sagte er und versuchte dabei aufmunternd zu klingen.
Sie öffnete die Augen ganz und drehte ihm den Kopf zu.
»Julius hat auch gesagt, er würde bei mir bleiben, und doch ist er von mir gegangen. Und jetzt ist auch mein Sohn fort.«
»Dein Ehemann war ein anständiger Mann, auch wenn die Götter manchmal unsere Versprechen zum Gespött machen, meine Liebe. Und so wie ich deinen Sohn kenne, kommt er ganz sicher gesund und munter zurück.«
Erschöpft schloss Aurelia die Augen, und bevor er sich aus dem Raum stahl, wartete Tubruk, bis sie eingeschlafen war.
Wilde Stürme suchten die Küste heim und ließen die vertäute Trireme trotz des Schutzes der kleinen afrikanischen Bucht, fern von Rom, wild schaukeln und schwanken. Ein paar der Offiziere würgten, doch sie waren so ausgehungert, dass sie sich gar nicht mehr übergeben konnten. Diejenigen, die wenigstens ihre dürftige Ration Wasser im Magen hatten, bemühten sich, es bei sich zu behalten, indem sie die Hände fest auf den Mund pressten. Es gab nie genug Süßwasser für sie, und in der drückenden Hitze lechzte der Körper nach jedem Tropfen Flüssigkeit. Wenn sie sich erleichterten, fingen die meisten Männer den Urin mit den Händen auf und tranken die warme Flüssigkeit, so schnell sie konnten, damit auch ja kein Tropfen verloren ging.
Julius machte das Schwanken des Schiffes nichts aus. Er verspürte große Genugtuung angesichts von Suetonius’ Unwohlsein, der mit geschlossenen Augen und auf den Magen gepressten Händen leise stöhnend dalag.
Trotz der Seekrankheit hatte sich unter den Zelleninsassen neue Zuversicht breitgemacht. Der Kapitän hatte einen Boten geschickt, um ihnen mitzuteilen, dass alle Lösegelder bezahlt worden seien. Das Geld war über Land und Meer an einen geheimen Treffpunkt gebracht worden, wo ein Mittelsmann der Piraten es in Empfang genommen und schließlich in diesen verlassenen Hafen gebracht hatte. Für Julius war es ein kleiner Sieg, dass der Kapitän es nicht gewagt hatte, selbst herunterzukommen. Seit jenem Tag vor etlichen Monaten, an dem er versucht hatte, sie zu quälen, hatte er sich zur diebischen Freude der Männer nicht mehr hier unten blicken lassen. Wäre er zu ihnen heruntergekommen, so wäre er von dem Anblick wahrscheinlich sehr überrascht gewesen. Die Römer waren über den Tiefpunkt ihrer Gefangenschaft hinweg und kamen langsam wieder zu Kräften.