Die Männer, die in den ersten paar Monaten noch so verzweifelt gewesen waren, warteten jetzt geduldig auf ihre Freilassung. Das Fieber hatte zwei weitere Todesopfer gefordert, was die erstickende Enge ein wenig gemildert hatte. Der neue Lebenswille war zu einem Großteil von Cabera ausgegangen, der endlich bessere Rationen für sie hatte aushandeln können. Es war ein gefährliches Spiel gewesen, aber der alte Mann wusste, dass nicht einmal die Hälfte der Männer ihre Freilassung erleben würde, wenn sie nicht endlich mehr zu essen bekamen und man ihnen erlaubte, sich zu säubern. Er hatte sich aufs Deck gesetzt und sich geweigert, auch nur einen einzigen weiteren Piraten zu behandeln, wenn man ihm nicht entgegenkam. Zu diesem Zeitpunkt litt der Kapitän gerade an einem schlimmen Ausschlag, den er sich im Hafen zugezogen hatte, weshalb es nicht allzu lange dauerte, bis er schließlich nachgab. Mit dem Essen kehrte auch die Hoffnung zurück, und die Männer waren wieder zuversichtlich, Rom und die Freiheit wiederzusehen. Ihr geschwollenes, blutendes Zahnfleisch heilte allmählich, und Cabera hatte ihnen einen Becher weißen Schiffstalg geben dürfen, mit dem sie ihre Schrunden einrieben.
Auch Julius hatte seine Rolle gespielt. Als seine Schiene abgenommen wurde, war er entsetzt gewesen, wie sehr die Muskeln zurückgegangen waren. Sofort hatte er sich an die Übungen gemacht, die Cabera ihm gezeigt hatte. In der stickigen Enge ihrer Zelle war es eine Qual, aber Julius hatte die Männer in zwei Gruppen von jeweils vier und fünf Männern eingeteilt. Die eine Gruppe kauerte sich für eine Stunde so eng wie möglich zusammen, damit die andere Platz zum Ringen und Bewegen hatte. Statt Gewichten stemmten sie ihre Kameraden, um die verlorenen Muskeln wieder aufzubauen. Dann tauschten sie die Plätze und ließen die andere Gruppe arbeiten und schwitzen. Der Latrineeimer war unzählige Male umgeworfen worden, doch die Männer wurden stärker, und keiner erlag mehr dem Fieber.
Auch Julius’ Kopfschmerzen traten jetzt seltener auf. Bei den schlimmsten Anfällen war er jedoch vor Schmerzen immer noch kaum fähig zu sprechen. Die anderen wussten jetzt, dass es besser war, ihn in Ruhe zu lassen, wenn er blass wurde und die Augen schloss. Der letzte Anfall dieser Art war bereits zwei Monate her, und Cabera meinte, es könnte durchaus der letzte gewesen sein. Julius betete zu den Göttern, dass er Recht hatte. Die Erinnerung an die Krankheit seiner Mutter hatte ihm panische Angst vor dieser Schwäche beschert, die ihn niederrang und seinen Verstand in die Finsternis verbannte.
Als ihnen endlich mitgeteilt wurde, dass das Schiff im Begriff war, die Segel zu setzen, um sie an einem verlassenen Küstenabschnitt abzusetzen, brachen die Offiziere der Accipiter in Jubel aus. Pelitas klopfte Suetonius sogar vor Freude und Aufregung auf die Schulter. Sie trugen noch immer Bärte und sahen wild und verwahrlost aus, doch nun drehte sich das Geplauder um Badehäuser, wo man von oben bis unten mit Öl abgerieben wurde.
Seltsam, wie die Dinge sich änderten. Früher hatte Julius einmal davon geträumt, ein General wie Marius zu werden, jetzt jedoch erschien es ihm als wesentlich erstrebenswerter, einfach nur sauber zu sein. Trotz allem hatte sich an seinem Vorsatz nichts geändert. Er würde die Piraten aufspüren und töten. Einige seiner Kameraden sprachen davon, auf dem schnellsten Weg nach Rom zurückzukehren, aber er wusste, dass er das unmöglich tun konnte, solange das Geld seiner Familie noch im Laderaum eines Piratenschiffes schaukelte. Sein Zorn hatte ihn die Krankheit sowie die Schmerzen der anstrengenden Übungen überstehen lassen. Jeden Tag zwang er sich, ein wenig mehr zu tun; er wusste, dass er stark werden musste, sollte das Versprechen, das er dem Kapitän gegeben hatte, nicht bloß in den Wind gespuckt sein.
Das Schwanken des Schiffes veränderte sich langsam, und die Römer stießen gedämpfte Freudenrufe aus, als es durch gleichmäßige Ruderschläge ausgeglichen wurde und das Schiff in See stach.
»Jetzt geht’s nach Hause«, sagte Prax verwundert und mit belegter Stimme. Die Worte »nach Hause« besaßen eine seltsame Macht. Einer der Männer begann leise zu weinen. Verlegen schauten die anderen weg, obwohl sie in den vergangenen Monaten weitaus Schlimmeres gesehen hatten. Im Laufe ihrer Gefangenschaft hatte sich vieles zwischen ihnen verändert. Gaditicus fragte sich insgeheim, ob sie wohl je wieder als Mannschaft zusammenarbeiten könnten, selbst wenn sie die Accipiter unversehrt und fahrbereit zurückbekämen. Doch sie hatten es geschafft, eine Art Disziplin zu wahren. Gaditicus und Prax schlichteten Streit und verhinderten Schlägereien, aber das Bewusstsein für Rang und Stand war langsam dahingeschwunden, und sie beurteilten einander jetzt nach neuen Regeln, hatten bei ihren Leidensgenossen andere Stärken und Schwächen entdeckt.
Pelitas und Prax waren gute Freunde geworden, denn trotz des Altersunterschiedes hatten beide im anderen etwas von der eigenen, gelassenen Lebenseinstellung wiedergefunden. Während der Gefangenschaft hatte Prax seinen Bauchansatz gegen harte Muskeln eingetauscht, die sie alle durch die wochenlangen täglichen Übungen und gegenseitiges Stemmen aufgebaut hatten. Julius vermutete, er würde das ihm erneut geschenkte Leben wieder genießen können, sobald er erst einmal rasiert und sauber war. Bei dem Gedanken daran lächelte er und kratzte sich eine wunde Stelle unterm Arm.
Gaditicus war einer von denen, die am meisten unter den kurzen, harten Wellen am Kai gelitten hatten, aber jetzt, da das Schiff Fahrt aufnahm, statt immer nur hin und her zu schwanken, kehrte wieder Farbe in sein Gesicht zurück. Julius hatte ihm gegenüber den Respekt und die Zuneigung entwickelt, die seinem rituellen Gehorsam Gaditicus’ Rang gegenüber zuvor gefehlt hatten. Der Mann hatte die Gruppe durch sämtliche Schwierigkeiten hindurch zusammengehalten und schien sehr zu schätzen, was Julius und Cabera für sie alle getan hatten.
Suetonius hingegen war die Gefangenschaft nicht gut bekommen. Er hatte die Freundschaft, die sich zwischen Pelitas, Prax, Julius und Gaditicus entwickelt hatte, bemerkt, und war neidisch auf Julius gewesen. Eine Zeit lang hatte er sich mit den vier anderen Offizieren angefreundet, und es waren zwei Lager entstanden. Julius hatte den Wettstreit der beiden Gruppen gegeneinander beim täglichen Training ausgenutzt, und schließlich hatte einer der Offiziere Suetonius schroff zurückgestoßen, als dieser sich flüsternd bei ihm beklagen wollte.
Kurz danach hatte Cabera endlich das erste richtige Essen seit Beginn ihrer Gefangenschaft zu ihnen herunterbringen können, was die Laune der Männer schlagartig verbessert hatte. Wie immer überließ es der alte Mann Julius, die Früchte zu verteilen. Suetonius konnte es kaum erwarten, bis sie endlich wieder frei waren, denn dann musste die alte Ordnung wiederhergestellt werden. Er freute sich unbändig auf den Moment, an dem Julius wieder klar werden würde, dass er nur ein junger Unteroffizier war.
Zwei Wochen nachdem sie den Hafen verlassen hatten, wurden sie mitten in der Nacht aus der Zelle geholt und ohne Waffen und Verpflegung an einer fremden Küste abgesetzt. Als man sie zu dem kleinen Boot führte, in dem sie zum Strand gerudert werden sollten, hatte der Kapitän sich zum Abschied ironisch vor ihnen verbeugt. Laut und deutlich hörten sie die Wellen sich an der nahe gelegenen Küste brechen.
»Lebt wohl, Römer! Ich werde an euch denken, wenn ich euer Geld ausgebe!«, hatte er ihnen lachend nachgerufen. Keiner hatte ihm geantwortet, nur Julius hatte ihn starr angesehen, so als wolle er sich jeden seiner Gesichtszüge genau einprägen. Er war wütend, weil man Cabera nicht erlaubt hatte, mit ihnen zu gehen. Julius hatte das zwar erwartet, aber es war ein Grund mehr, den Kapitän aufzuspüren und zu töten.
Am Strand schnitt man ihnen die Fesseln durch, und die Matrosen gingen mit gezogenen Dolchen langsam rückwärts zu ihrem Boot zurück.
»Tut jetzt nichts Unüberlegtes«, warnte sie einer von ihnen. »Mit der Zeit findet ihr schon euren Weg nach Hause.« Dann saßen sie wieder in ihrem Boot und ruderten schnell zum Schiff zurück, das sich schwarz von der mondglänzenden See abhob.