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Servilia saß mit geradem Rücken auf dem Rand der Liege. Die Anspannung war ihr deutlich anzusehen, doch Brutus hatte das Gefühl, er sollte nicht als Erster etwas sagen. Er hatte den größten Teil der Nacht wach gelegen, ohne zu einem Entschluss zu kommen. Drei Mal hatte er beschlossen, das Haus in der Nähe des Quirinal nicht mehr aufzusuchen, aber jedes Mal war es nur eine leere Geste des Trotzes gewesen. Tatsächlich hatte er keinen Augenblick daran gezweifelt, dass er zu ihr gehen würde. Er verspürte keineswegs die Liebe eines Sohnes, trotzdem war er aus einem unklaren Ideal heraus zurückgekehrt, mit derselben Faszination, als kratzte er eine verschorfte Wunde auf, um für sie bluten zu können.

Als Kind, wenn er allein und verängstigt gewesen war, hatte er sich oft sehnsüchtig gewünscht, sie würde zu ihm kommen. Als Marius’ Frau ihn mit ihrem Verlangen nach einem Sohn fast erdrückt hatte, war er zurückgewichen, verunsichert von Gefühlen, die er nicht verstand. Und dennoch besaß die Frau, die ihm gegenübersaß, eine Macht über ihn wie niemand sonst – nicht Tubruk und selbst Julius nicht.

In der unnatürlichen Stille betrachtete er sie eingehend, auf der Suche nach etwas, das er nicht benennen oder auch nur zu verstehen hoffen konnte. Sie trug eine reine weiße Stola auf der sonnengebräunten Haut, ohne jeden Schmuck. Wie am Tag zuvor war ihr Haar offen, und sie bewegte sich mit einer so geschmeidigen Anmut, dass es einem Freude bereitete, ihr einfach nur beim Gehen oder Sitzen zuzusehen, so wie man den vollkommenen Gang eines Leoparden oder eines Rehs bewunderte. Ihre Augen waren zu groß, befand er, und ihr Kinn zu ausgeprägt für eine klassische Schönheit, aber er konnte den Blick trotzdem nicht abwenden. Die Falten an ihren Augen und um ihren Mund herum fielen ihm auf. Sie schien angespannt und nervös, bereit, jeden Augenblick aufzuspringen und vor ihm wegzulaufen, so wie sie es schon einmal getan hatte. Er wartete und fragte sich, wie viel von seiner Anspannung sich wohl in seinem Gesicht widerspiegelte.

»Warum bist du hergekommen?«, fragte sie in die schreckliche Stille hinein. Wie viele Antworten auf diese Frage hatte er sich schon überlegt! Szene für Szene hatte er nachts in seiner Phantasie durchgespielt: sie zu verspotten, zu beleidigen, sie in die Arme zu schließen. Nichts davon hatte ihn auf die tatsächliche Situation vorbereiten können.

»Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, wie du wohl bist. Ich wollte dich sehen, nur ein einziges Mal, nur um zu wissen, wer du bist. Ich wollte wissen, wie du aussiehst.« Er hörte, wie seine Stimme zitterte. Wut stieg in ihm auf. Er würde sich nicht lächerlich machen. Er würde nicht wie ein Kind mit dieser Frau reden, dieser Hure.

»Ich habe immer an dich gedacht, Marcus«, sagte sie. »Ich habe viele Briefe an dich angefangen, aber ich habe sie nie abgeschickt.«

Brutus sammelte mühsam seine Gedanken. In all den Jahren seines Lebens hatte er nie seinen Namen aus ihrem Mund gehört. Es machte ihn zornig, und der Zorn gestattete es ihm, ruhig mit ihr zu sprechen.

»Wie war mein Vater?«, fragte er.

Sie wandte den Blick ab und starrte auf die Wände des einfachen Raums, in dem sie saßen.

»Er war ein guter Mann, sehr stark, und so groß wie du. Ich habe ihn nur zwei Jahre gekannt, ehe er starb, aber ich weiß noch, wie froh er war, einen Sohn zu haben. Er hat dir deinen Namen gegeben und dich zum Tempel des Mars gebracht, um dich von den Priestern segnen zu lassen. Im gleichen Jahr wurde er krank und starb noch vor dem Winter. Die Ärzte konnten nichts für ihn tun, aber er hatte am Ende nur wenig Schmerzen.«

Brutus spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, und wischte sie wütend weg, als sie fortfuhr.

»Ich… konnte dich nicht großziehen. Ich war selbst noch ein Kind und nicht bereit oder in der Lage, eine Mutter zu sein. Ich habe dich bei seinem Freund gelassen und bin davongelaufen.« Bei dem letzten Satz versagte ihr die Stimme, und sie öffnete ihre geballte Hand, in der ein zusammengeknülltes Tuch zum Vorschein kam, mit dem sie sich die Augen trocknete.

Brutus betrachtete sie mit einem merkwürdig distanzierten Gefühl, als könnte ihn nichts, was sie sagte oder tat, berühren. Die Wut war verschwunden, und er fühlte sich fast ein wenig schwindlig. Es gab eine Frage, die er ihr stellen musste, aber jetzt fiel sie ihm ganz leicht.

»Warum hast du mich nicht geholt, als ich herangewachsen bin?«

Lange sagte sie nichts darauf und wischte sich mit dem Tuch die Tränen fort, bis sich ihr Atem wieder beruhigt hatte und sie ihn wieder ansehen konnte. Sie hielt ihren Kopf mit graziler Würde aufrecht.

»Du solltest dich nicht für mich schämen müssen.«

Seine unnatürliche Ruhe machte Gefühlen Platz, die wie Stroh im Sturm durcheinander wirbelten.

»Das wäre gut möglich gewesen«, flüsterte er mit heiserer Stimme. »Ich habe vor langer Zeit mit angehört, wie jemand über dich geredet hat, aber ich habe so getan, als wäre es eine Verwechslung, um dich aus meinen Gedanken zu vertreiben. Dann stimmt es also, dass du…«

Er konnte die Worte ihr gegenüber nicht aussprechen, doch sie richtete sich noch weiter auf, und ihre Augen funkelten.

»Dass ich eine Hure bin? Vielleicht. Ich war es einmal, obwohl man, solange die Männer, die man kennt, mächtig genug sind, Kurtisane genannt wird, oder sogar Begleiterin.« Sie verzog das Gesicht, und ihr Mund zuckte.

»Ich dachte, du würdest dich vielleicht für mich schämen, und das hätte ich von meinem Sohn nicht ertragen können. Erwarte von mir keine Scham. Ich habe sie vor allzu langer Zeit verloren, als dass ich mich noch daran erinnern könnte. Ich würde ein anderes Leben wählen, wenn ich noch einmal anfangen könnte, aber ich kenne niemanden, der nicht den gleichen vergeblichen und müßigen Traum hat. Ich werde mein Leben nicht damit zubringen, Tag für Tag den Kopf vor lauter Schuld zur Erde zu neigen! Auch für dich nicht.«

»Warum hast du mich gebeten, heute zurückzukommen?«, wollte Brutus wissen, der es plötzlich selbst kaum glauben konnte, dass er ihrer Bitte so leicht nachgekommen war.

»Ich wollte sehen, ob dein Vater immer noch stolz auf dich wäre. Ich wollte sehen, ob ich stolz auf dich bin! Ich habe in meinem Leben viele Dinge getan, die ich bereue, aber dich zur Welt gebracht zu haben, hat mich immer getröstet, wenn alles andere nicht mehr zu ertragen war.«

»Du hast mich verlassen! Sag nicht, es hätte dich getröstet, du hast mich nicht ein einziges Mal besucht. Ich wusste nicht einmal, wo in der Stadt du eigentlich wohnst. Du hättest überall hingezogen sein können.«

Servilia streckte vier Finger in die Luft, den Daumen hielt sie in die Handfläche gedrückt.

»Vier Mal bin ich umgezogen, seit du ein Säugling warst. Jedes Mal habe ich Tubruk eine Nachricht zukommen lassen. Er hat immer gewusst, wo ich zu erreichen bin.«

»Das habe ich nicht gewusst«, sagte er, von ihrer Heftigkeit erschüttert.

»Du hast ihn nie gefragt«, entgegnete sie und ließ die Hand wieder in den Schoß fallen.

Wieder breitete sich das Schweigen zwischen ihnen aus, als wäre es nie unterbrochen gewesen. Brutus suchte nach Worten, mit denen er sie endlich treffen konnte, damit er das Haus mit Würde verlassen und fortgehen konnte. Schneidende Bemerkungen schossen ihm durch den Kopf und verschwanden wieder, bis er endlich einsah, was für ein Narr er war. Verachtete er sie? Schämte er sich für ihr Leben oder ihre Vergangenheit? Er lauschte in sich nach einer Antwort und fand eine. Er empfand nicht die Spur von Scham. Er wusste, dass es das Bewusstsein, Männer in einer Legion angeführt zu haben, war, das ihn darüber erhaben machte. Wäre er zu ihr gekommen, ohne etwas erreicht zu haben, hätte er sie vielleicht gehasst, doch er hatte seinen Wert im Angesicht von Gegnern und Freunden gemessen und fürchtete sich nicht davor, ihn auch in ihrem Antlitz widergespiegelt zu sehen.