Am zweiten Tag hatte Julius beinahe den ganzen Vormittag über sein Tempo dem von Gaditicus an der Spitze der beiden Kohorten angepasst. Ihnen blieb wenig Luft zum Reden, aber sie waren übereingekommen, sich an der Spitze abzuwechseln, damit der andere sich zwischen die Einheiten zurückfallen lassen und dort Schwächen und Stärken erkennen konnte. Für Julius waren diese Aufenthalte unter den Männern von großem Wert, denn dabei hatte er auch in den Gesichtern der Schwächsten die beginnende Erregung entdecken können. Sie hatten die kleinlichen Gesetze und Einschränkungen des Stadtlebens abgestreift und kehrten in die einfachste Welt zurück, die sie kannten.
Fast eine Stunde lang marschierte Julius neben einer Reihe auf halber Höhe der Ventulus-Kohorte. Einer der Veteranen war ihm aufgefallen, der Einzige, der ihn nicht anblickte, als er an ihm vorbeikam. Der Mann musste einer der Ältesten sein und war in der Masse der Soldaten nicht einfach auszumachen, was, wie Julius vermutete, durchaus Absicht sein mochte. Statt eines Helms trug er ein abgewetztes altes Löwenfell, das seinen gesamten Kopf bedeckte und in einer sauberen Linie bis auf die Schultern reichte. Die Augen der toten Raubkatze waren dunkle Löcher, und wie der Besitzer schien die Kopfbedeckung fast nutzlos. Der alte Mann blickte beim Marschieren stur geradeaus, die Augen gegen den Staub zu faltigen Schlitzen zusammengekniffen. Julius musterte ihn interessiert. Ihm fielen die schroffen Konturen der Sehnen auf, die am Hals hervorstanden, und die geschwollenen Knöchel der Hände, die mehr nach Keulen aussahen als nach Fingern. Obwohl der Veteran den Mund ständig geschlossen hielt, konnte man an den eingefallenen Wangen erkennen, dass nur noch wenige Zähne in den alten Kiefern steckten. Julius fragte sich, welcher Geist wohl einen so alten Mann Meile um Meile marschieren ließ, die Augen stets auf ein Ziel gerichtet, das keiner von ihnen sehen konnte.
Als sich der Mittag näherte und Julius gerade Halt machen lassen wollte, damit die Männer essen und sich ausruhen konnten, sah er, dass der Mann mit dem linken Bein zu humpeln begonnen hatte und sein linkes Knie in der kurzen Zeit, die er in seiner Nähe gewesen war, angeschwollen war. Er brüllte das Kommando zum Halten, und die Wölfe kamen in zwei Schritten gemeinsam zum Stehen.
Während Quertorus die Kochutensilien zusammensuchte, sah Julius den alten Mann mit dem Rücken an einen verkrüppelten Baum gelehnt dasitzen. Er verzog das zerfurchte Gesicht, als er das geschwächte Knie mit einer Stoffbinde so fest umwickelte, bis er es kaum noch beugen konnte. Er hatte das Löwenfell abgenommen und vorsichtig zur Seite gelegt. Seine Haare waren dünn und grau und klebten ihm in schweißnassen Strähnen am Kopf.
»Wie ist dein Name?«, fragte ihn Julius.
Der alte Mann antwortete, während er weiter die Binde wickelte und das Knie ausprobierte. Bei jedem Versuch ächzte er.
»Die meisten nennen mich Cornix, die alte Krähe. Ich bin Jäger und Fallensteller, in den Wäldern.«
»Ich habe einen Freund, der dir mit dem Knie helfen könnte. Ein Heiler. Er ist wahrscheinlich noch älter als du«, sagte Julius leise.
Cornix schüttelte den Kopf. »Den brauche ich nicht. Dieses Knie hat mich schon auf vielen Feldzügen begleitet. Diesen einen wird es auch noch aushalten.«
Julius drängte nicht weiter, weil ihn die Hartnäckigkeit des Alten beeindruckte. Ohne ein weiteres Wort reichte er ihm etwas von dem warmen Brot und dem Bohneneintopf, den Quertorus aufgewärmt hatte. Es würde ihre letzte warme Mahlzeit sein, weil sie jetzt zu nahe an Mithridates herankamen und nicht riskieren konnten, dass der Rauch von Spähern entdeckt wurde. Cornix nahm die Ration und nickte dankbar.
»Du bist ein seltsamer Befehlshaber«, meinte er mit vollem Mund. »Bringst mir Essen.«
Julius sah ihm einen Augenblick beim Essen zu, ohne zu antworten.
»Und du müsstest das Soldatenleben doch eigentlich längst hinter dir haben. Es muss doch zwanzig Jahre her sein, seit du bei der Legion warst?«
»Eher dreißig, und das weißt du auch«, erwiderte Cornix mit einem Lächeln, das den Blick auf zerkautes Brot freigab. »Aber manchmal fehlt sie mir immer noch.«
»Hast du eine Familie?«, fragte Julius, der sich immer noch wunderte, warum der Greis die Sicherheit der Hügel verlassen hatte, um seine letzte Kraft mit den anderen zu vergeuden.
»Die Kinder sind nach Norden gezogen, und meine Frau ist gestorben. Ich bin jetzt allein.«
Julius stand auf und blickte auf den friedlich vor sich hinkauenden Mann herab, der das Gesicht verzog, als er das bandagierte Knie beugte. Er sah hinüber zu der Stelle, wo Cornix Schild und Schwert gegen einen Baum gelehnt hatte. Der alte Mann folgte seinem Blick und beantwortete die unausgesprochene Frage.
»Keine Angst, ich kann immer noch damit umgehen.«
»Das wirst du auch müssen. Man sagt, Mithridates habe eine sehr große Armee.«
Cornix schniefte verächtlich. »Ja, das sagt man immer.« Er schluckte den Bohneneintopf hinunter und nahm einen langen Zug aus dem Wasserschlauch. »Willst du mich nicht endlich fragen?«
»Was denn fragen?«, erwiderte Julius.
»Ich habe doch gesehen, wie es dich die ganze Zeit beschäftigt hat, während du neben mir hermarschiert bist. Warum zieht ein Mann in meinem Alter noch mal in den Krieg? Das war es doch, oder? Wahrscheinlich hast du dich sogar gefragt, ob ich überhaupt noch mein Schwert heben kann.«
»Das ist mir durch den Kopf gegangen«, lachte Julius als Antwort auf den Humor, der in den dunklen Augen leuchtete.
Cornix lachte mit ihm, mit harten, keuchenden Lauten. Dann schwieg er und blickte den hoch gewachsenen jungen Befehlshaber unverwandt an, der jugendliche Selbstsicherheit ausstrahlte und sein ganzes Leben noch vor sich hatte.
»Ich will meine Schulden begleichen, Junge. Die alte Stadt hat mir viel mehr gegeben als ich ihr. Ich denke, nach diesem letzten Dienst müssten wir quitt sein.«
Er zwinkerte Julius zu, als er geendet hatte, und dieser lächelte verhalten, als ihm klar wurde, dass Cornix zum Sterben mit ihm gekommen war. Vielleicht zog er ein schnelles Ende dem langwierigen, qualvollen Tod in einer entlegenen Jägerhütte vor. Er fragte sich, wie viel von den anderen wohl ebenfalls ihr Leben lieber mit ihrem letzten Mut wegwerfen wollten, als auf einen Tod zu warten, der sich bei Nacht an sie heranschlich. Als er zu den Lagerfeuern zurückging, schauderte Julius ein wenig, obwohl es nicht kalt war.
Julius konnte nicht mit Sicherheit wissen, wo Mithridates mit seinen Aufständischen lagerte. Die Berichte, die er von römischen Überlebenden erhalten hatte, konnten falsch sein, oder vielleicht war der griechische König auch schon viele Meilen weitergezogen, während die Wölfe in das Gebiet einmarschierten. Seine größte Sorge war, dass die beiden Streitkräfte zufällig auf die Späher der jeweils anderen stießen und zum Handeln gezwungen würden, ehe Julius bereit war. Seine eigenen Späher wussten, dass ihrer aller Leben davon abhing, dass sie nicht entdeckt wurden. Julius hatte die schnellsten und kräftigsten Männer auf meilenweite Erkundungszüge geschickt, um nach frischen Spuren des Feindes Ausschau zu halten, während sich die Hauptstreitmacht der Wölfe im Dickicht des Waldes verborgen hielt. Es war eine nervenaufreibende Zeit. Ohne Feuer und ohne die Möglichkeit, im weiteren Umkreis zu jagen, verbrachten sie kalte und feuchte Nächte, und die schwache Sonne, die tagsüber durch die Bäume brach, vermochte sie kaum aufzuwärmen.
Nach vier Tagen der Untätigkeit war Julius kurz davor, die Männer ins offene Gelände marschieren zu lassen und die Konsequenzen zu tragen. Bis auf drei waren alle Späher durch die äußere Postenkette zurückgekehrt und verzehrten gemeinsam mit den anderen trübsinnig schweigend eine kalte Mahlzeit.