Julius seufzte. »Das hat mein Vater immer gesagt.«
»Ich weiß. Und er hatte Recht. Es gibt keine Zukunft für den Jungen, wenn er sich auf den Straßen dieser Stadt herumtreibt. Überhaupt keine. Wo wäre Brutus, wenn deine Familie ihn nicht aufgenommen hätte?«
»Ich habe mich einverstanden erklärt, Alexandria. Du brauchst nicht noch weiter darauf herumzureiten.«
Ohne Warnung hob sie die Hand und berührte die weiße Narbe auf seiner Stirn.
»Lass mich dich ansehen«, sagte sie, kam einen Schritt näher und pfiff leise. »Du hast Glück, dass du noch am Leben bist. Ist dein Auge deshalb anders?«
Er zuckte die Achseln und wollte die Unterhaltung eigentlich abbrechen, doch dann sprudelte die Geschichte nur so aus ihm heraus: der Kampf auf der Accipiter, die Kopfwunde, die ihm monatelang zu schaffen gemacht hatte, die Anfälle, die ihm davon geblieben waren.
»Seit ich weggegangen bin, ist nichts mehr so, wie es einmal war«, sagte er. »Oder aber doch, und nur ich habe mich so sehr verändert, dass ich es nicht mehr erkenne. Cabera meint, die Anfälle könnten bis zu meinem Lebensende bleiben oder schon morgen aufhören. Niemand kann das mit Gewissheit sagen.« Er hob die linke Hand und musterte sie, doch sie zitterte nicht einmal.
»Manchmal glaube ich, das Leben ist nichts weiter als ein einziger Schmerz, unterbrochen von kurzen Augenblicken der Freude«, antwortete sie. »Du bist stärker als früher, Julius, sogar mit dieser Wunde. Ich habe mir angewöhnt, den Schmerz durchzustehen und die Momente des Glücks auszukosten, ohne mich um die Zukunft zu sorgen.«
Er ließ die Hand fallen und schämte sich plötzlich dafür, dass er so freimütig von seinen Ängsten geredet hatte. Diese Last hatte weder sie noch sonst jemand zu tragen, sondern einzig und allein er. Er stand der Familie vor, er war römischer Tribun und Befehlshaber der Primigenia. Wie eigenartig, dass er sich nicht daran freuen konnte, obwohl er einst davon geträumt hatte.
»Hast du… Brutus gesehen?«, fragte Julius nach einer Pause.
Sie drehte sich weg und beschäftigte ihre Hände damit, die Werkzeuge von Tabbics Werkbank zu räumen.
»Wir sehen uns gelegentlich«, sagte sie.
»Oh. Ich habe ihm nicht gesagt, dass wir…ähm…«
Alexandria lachte plötzlich und schaute ihn über die Schulter an.
»Das lässt du auch besser bleiben. Ihr wetteifert auch so schon genug, auch ohne dass ich zwischen euch stehe.«
Zu seiner Verwunderung stellte Julius fest, dass ein Stachel der Eifersucht sich in seine Gedanken bohrte. Er wehrte sich dagegen. Alexandria gehörte nicht ihm, und abgesehen von einer jahrealten, wie unter Glas aufbewahrten Erinnerung hatte sie ihm auch nie gehört. Als er sie ansah, schien sie das Durcheinander seiner innersten Gedanken nicht zu spüren.
»Behalte ihn in deiner Nähe, Julius. Rom ist gefährlicher als du denkst«, sagte sie.
Julius hätte bei dem Gedanken an die Gefahren, die er bereits überlebt hatte, beinahe gegrinst, doch die Tatsache, dass sie sich um sein Leben sorgte, ernüchterte ihn.
»Ich behalte ihn in meiner Nähe«, versprach er.
Julius stieg vom Pferd, um die letzten zwei Meilen bis zum Landgut außerhalb der Stadt zu Fuß zu gehen. Sein Kopf schwirrte vor Plänen, während er dahinschritt, die Zügel um den Arm geschlungen. Seit seiner Heimkehr hatten sich die Ereignisse förmlich überschlagen. Er hatte den Posten als Tribun bekommen, hatte sich das Haus des Marius zurückgeholt und das Kommando über die Primigenia übernommen. Und er hatte Alexandria wiedergetroffen. Octavian. Cornelia. Sie kam ihm vor wie eine Fremde. Er legte die Stirn in Falten und ging völlig in Gedanken versunken dahin, wie betäubt von dem gleichmäßigen Rhythmus der Hufe neben ihm im Staub. Die Erinnerung an sie hatte ihm über die schlimmsten Zeiten seiner Gefangenschaft hinweggeholfen. Das Verlangen, zu ihr zurückzukehren, war die geheime Kraft tief in ihm gewesen, die ihn Verletzungen, Krankheit und Schmerz hatten überstehen lassen. Und doch… als er sie schließlich in den Armen gehalten hatte, war es ihm vorgekommen, als sei sie eine andere. Er hoffte, dass sich das mit der Zeit gab, doch ein Teil von ihm sehnte sich immer noch nach der Gemahlin, die er liebte, obwohl sie nur eine Meile entfernt war und auf ihn wartete.
Die juristische Auseinandersetzung, der er sich bald stellen musste, beunruhigte ihn nicht im Geringsten. Er hatte mehr als sechs Monate Monotonie in einer Schiffszelle zur Verfügung gehabt, um eine Verteidigung für Marius aufzubauen. Wenn Antonidus ihm nicht die Gelegenheit verschafft hätte, so hätte er die Angelegenheit auf irgendeine andere Weise zur Sprache gebracht. Jedenfalls war es ihm unmöglich, seinen Onkel weiterhin der Verachtung der Stadt ausgeliefert zu sehen.
Cornelia kam ihm zur Begrüßung aus dem Tor entgegen. Er küsste sie. Verspätet wurde ihm bewusst, dass es noch andere Dinge zwischen Ehegatten gab, die er in den zwei Nächten seit seiner Rückkehr vernachlässigt hatte. Er war sicher, dass die körperliche Nähe auch seine Liebe zu ihr wieder aufleben lassen würde. Die Anstrengungen seiner Reisen wichen rasch von ihm; er küsste sie wieder, diesmal ausgiebig, und so mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, bemerkte er nicht, dass sie plötzlich wie in panischer Angst in seinen Armen erstarrte. Er gab das Pferd in die Obhut des Sklaven, der bereits im Hintergrund gewartet hatte.
»Geht es dir gut?«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. Der Duft ihres Parfüms drang kühl in seine Lunge. Sie nickte schweigend.
»Schläft das Kind?«
Sie lehnte den Kopf zurück und sah ihn an.
»Was hast du denn vor?«, fragte sie und bemühte sich, gelassen zu bleiben.
»Wenn du willst, zeige ich es dir«, erwiderte er und küsste sie wieder. Ihre Haut war blass und wunderschön. Gemeinsam gingen sie ins Haus, wo sie vor ungebetenen Blicken geschützt waren.
Im Schlafzimmer kam er sich ungeschickt vor und überspielte seine Nervosität mit Küssen, zwischen denen er seine Kleider auf den Boden schleuderte. Etwas stimmte nicht dabei, wie sie seine Zärtlichkeiten erwiderte, doch er war sich nicht sicher, ob es nur an ihrer langen Trennung lag. Alles in allem kannten sie sich noch so gut wie überhaupt nicht, so dass er keine rückhaltlose Vertrautheit erwarten durfte. Also streichelte er ihren Hals, damit sie sich entspannte, und fuhr mit den Händen zärtlich ihren Rücken hinunter, als sie nackt beieinander saßen und das gedämpfte Licht der einzigen Lampe das Zimmer in Gold tauchte.
Cornelia erwiderte seine Küsse und wollte das, was in ihr verletzt worden war, am liebsten herausschluchzen. Sie hatte niemandem erzählt, was Sulla getan hatte, nicht einmal Clodia. Sie hatte gehofft, die Schande vergessen zu können, hatte sie irgendwo tief in sich vergraben, bis es ihr vorkam, als wäre es nie geschehen. Als sie spürte, dass Julius immer erregter wurde, schloss sie sich seinem Rhythmus an, empfand jedoch nichts außer Angst, als die Erinnerungen an den letzten Besuch des Diktators ungewollt in ihr aufblitzten. Wieder hörte sie den Schrei ihrer Tochter in der Wiege neben ihrem Bett, während Sulla sie niederdrückte. Tränen rannen aus ihren Augen, als die Grausamkeit mit entsetzlicher Wucht an die Oberfläche ihrer Erinnerung stieg.
»Ich glaube, ich kann nicht, Gaius«, sagte sie mit brechender Stimme.
»Was hast du denn?«, fragte er, erschrocken über ihre Tränen.
Cornelia schmiegte sich an ihn, und er schlang die Arme um ihren Körper, legte den Kopf auf den ihren, als sie von heftigem Schluchzen geschüttelt wurde.
»Hat dir jemand etwas getan?«, flüsterte er, und eine große Leere breitete sich in seiner Brust aus, kaum dass er diesen schrecklichen Gedanken ausgesprochen hatte.
Zuerst konnte sie ihm nicht antworten, aber dann begann sie mit fest geschlossenen Augen zu flüstern. Nicht das Schlimmste, sondern den Anfang, von den Schrecknissen ihrer Schwangerschaft, der grausamen Gewissheit, dass niemand in ganz Rom Sulla aufhalten konnte.