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Schließlich brach sie das Schweigen. «Mr. Mulholland war ein großer Teetrinker. Nie im Leben habe ich jemanden so viel Tee trinken sehen wie den lieben Mr. Mulholland.»

«Ich nehme an, er ist erst vor kurzem ausgezogen», meinte Billy, der noch immer an den beiden Namen herumrätselte. Er war jetzt ganz sicher, dass er sie in der Zeitung gelesen hatte – in den Schlagzeilen.

«Ausgezogen?» Sie hob erstaunt die Brauen. «Aber nein, lieber Junge, er ist gar nicht ausgezogen. Er wohnt noch hier. Mr. Temple auch. Sie sind beide im dritten Stock untergebracht.»

Billy stellte die Tasse vorsichtig auf den Tisch und starrte seine Wirtin an. Sie lächelte, streckte eine ihrer weißen Hände aus und klopfte ihm beruhigend aufs Knie. «Wie alt sind Sie, mein Freund?»

«Siebzehn.»

«Siebzehn!», rief sie. «Ach, das ist das schönste Alter! Mr. Mulholland war auch siebzehn. Aber ich glaube, er war ein wenig kleiner als Sie, ja, bestimmt war er kleiner, und seine Zähne waren nicht ganz so weiß wie Ihre. Sie haben wunderschöne Zähne, Mr. Weaver, wissen Sie das?»

«So gut, wie sie aussehen, sind sie gar nicht», sagte Billy. «Auf der Rückseite haben sie eine Menge Füllungen.»

Sie überhörte seinen Einwurf. «Mr. Temple war natürlich etwas älter», erzählte sie weiter. «Er war schon achtundzwanzig. Aber wenn er mir das nicht verraten hätte, wäre ich nie darauf gekommen, nie im Leben. Sein Körper war ganz ohne Makel.»

«Ohne was?», fragte Billy.

«Er hatte eine Haut wie ein Baby. Genau wie ein Baby.»

Es entstand eine Pause. Billy nahm seine Tasse, trank einen Schluck und setzte sie behutsam auf die Untertasse zurück. Er wartete auf irgendeine Bemerkung seiner Wirtin, aber sie hüllte sich in Schweigen. So saß er denn da, blickte unentwegt in die gegenüberliegende Zimmerecke und nagte an seiner Unterlippe.

«Der Papagei dort …», sagte er schließlich. «Wissen Sie, als ich ihn zuerst durchs Fenster sah, bin ich tatsächlich darauf hereingefallen. Ich hätte schwören können, dass er lebt.»

«Leider nicht mehr.»

«Eine ausgezeichnete Arbeit», bemerkte Billy. «Wirklich, er sieht nicht im Geringsten tot aus. Wer hat ihn denn ausgestopft?»

«Ich.»

«Sie?»

«Natürlich», bestätigte sie. «Haben Sie schon meinen kleinen Basil gesehen?» Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den Dackel, der so behaglich zusammengerollt vor dem Kamin lag. Billy schaute hin, und plötzlich wurde ihm klar, dass sich das Tier die ganze Zeit ebenso stumm und unbeweglich verhalten hatte wie der Papagei. Er streckte die Hand aus. Der Rücken des Hundes, den er vorsichtig berührte, war hart und kalt, und als er mit den Fingern das Haar beiseiteschob, sah er darunter die trockene, gut konservierte, schwarzgraue Haut.

«Du lieber Himmel», rief er, «das ist ja phantastisch!» Er wandte sich von dem Hund ab und blickte voller Bewunderung die kleine Frau an, die neben ihm auf dem Sofa saß. «So etwas muss doch unglaublich schwierig sein.»

«Durchaus nicht», erwiderte sie. «Ich stopfe alle meine kleinen Lieblinge aus, wenn sie von mir gehen. Möchten Sie noch eine Tasse Tee?»

«Nein, danke», sagte Billy. Der Tee schmeckte ein wenig nach bitteren Mandeln, und das mochte er nicht.

«Sie haben sich in das Buch eingetragen, nicht wahr?»

«Ja, gewiss.»

«Dann ist es gut. Weil ich später, falls ich Ihren Namen einmal vergessen sollte, immer herunterkommen und im Buch nachschlagen kann. Das tue ich fast täglich mit Mr. Mulholland und Mr … . Mr … .»

«Temple», ergänzte Billy. «Gregory Temple. Entschuldigen Sie, aber haben Sie denn außer den beiden in den letzten zwei, drei Jahren gar keine anderen Gäste gehabt?»

Sie hielt die Tasse hoch in der Hand, neigte den Kopf leicht nach links, blickte aus den Augenwinkeln zu ihm auf, lächelte ihn freundlich an und sagte: «Nein, lieber Freund. Nur Sie.»

William und Mary

Viel Geld hinterließ William Pearl nicht, als er starb, und sein Testament war sehr unkompliziert. Mit Ausnahme einiger kleiner Legate an Verwandte hatte er alles, was er besaß, seiner Frau zugedacht.

Der Anwalt und Mrs. Pearl gingen zusammen im Anwaltsbüro das Testament durch, und als das Geschäftliche erledigt war, wollte sich die Witwe verabschieden. In diesem Moment nahm der Anwalt aus einem Aktendeckel einen versiegelten Umschlag und reichte ihn seiner Klientin. «Ich habe den Auftrag, Ihnen dies zu übergeben», sagte er. «Ihr Mann hat es uns kurz vor seinem Hinscheiden geschickt.» Der Anwalt war blass und steif, und da man einer Witwe Respekt schuldet, legte er beim Sprechen den Kopf schräg und blickte zu Boden. «Offenbar handelt es sich um etwas Persönliches, Mrs. Pearl. Sie werden das Schreiben wohl lieber zu Hause lesen wollen, wo Sie ungestört sind.»

Mrs. Pearl nahm den Brief und ging. Auf der Straße blieb sie stehen und betastete den Umschlag mit den Fingern.

Ein Abschiedsbrief von William? Wahrscheinlich. Ein formeller Brief? Ja, bestimmt war er formell – kühl und formell. Anders hätte William gar nicht schreiben können, denn er hatte zeit seines Lebens nichts Unformelles getan.

Meine liebe Mary, ich hoffe und wünsche, dass Dich mein Abschied von dieser Welt nicht zu sehr aufregen wird, und ich bitte Dich, auch weiterhin die Grundsätze zu beachten, von denen Du Dich während unserer Ehe so treulich hast leiten lassen. Sei und bleibe fleißig und wahre in jeder Beziehung Deine Würde. Geh sparsam mit dem Geld um. Sorge vor allem dafür, dass Du nicht … und so weiter und so weiter.

Ein typischer Brief von William.

Oder sollte er etwa in letzter Minute weich geworden sein und ihr etwas Schönes geschrieben haben? Vielleicht war dies eine zärtliche Botschaft, eine Art Liebeserklärung, ein inniger, warmer Dank für die dreißig Jahre ihres Lebens, die sie ihm geschenkt hatte, und für die ungezählten gebügelten Hemden, sorgsam zubereiteten Mahlzeiten und gemachten Betten – ein Brief, den sie wieder und wieder lesen könnte, täglich wenigstens einmal, und den sie für immer in dem Schmuckkasten auf ihrem Toilettentisch aufbewahren würde.

Wenn es ans Sterben geht, ist der Mensch zu allem fähig, sagte sich Mrs. Pearl, klemmte den Umschlag unter den Arm und eilte nach Hause.

Sie schloss die Tür auf, ging geradewegs ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa, ohne Hut und Mantel abzulegen. Dann öffnete sie den Umschlag und zog den Inhalt heraus. Sie stellte fest, dass es sich um fünfzehn bis zwanzig linierte weiße Bogen handelte, die in der Mitte gefaltet waren und an der linken oberen Ecke von einer Heftklammer zusammengehalten wurden. Jedes Blatt war mit der kleinen, vorwärtsgeneigten Schrift bedeckt, die sie so gut kannte. Als sie jedoch sah, wie viel es war, wie geschäftsmäßig sauber sich Zeile an Zeile reihte und wie sachlich das Schreiben begann – ganz anders, als man es von einem solchen Brief erhofft –, da wurde sie misstrauisch.

Sie hob den Kopf, zündete sich eine Zigarette an, tat einen Zug und legte die Zigarette in den Aschbecher.

Wenn es in diesem Brief um das geht, was ich befürchte, sagte sie sich, dann möchte ich ihn lieber nicht lesen.

Kann man sich weigern, den Brief eines Verstorbenen zu lesen?

Ja.

Also …

Sie warf einen Blick auf Williams leeren Sessel vor dem Kamin. Es war ein großer brauner Ledersessel mit einer Einbuchtung, die von Williams Gesäß herrührte und die mit den Jahren immer tiefer geworden war. Oben an der Rückenlehne hatte Williams Kopf einen dunklen Fleck auf dem Leder hinterlassen. In diesem Stuhl hatte er es sich abends gern mit einem Buch bequem gemacht, während sie ihm gegenüber auf dem Sofa saß, Knöpfe annähte, Socken stopfte oder seine Jacken an den Ellbogen flickte. Hin und wieder hatten dann ein Paar Augen von dem Buch aufgeschaut und zu ihr hinübergeblickt, aufmerksam, aber merkwürdig unpersönlich, als berechneten sie irgendetwas. Diese Augen hatte sie nie gemocht. Sie waren eisblau, kalt, klein und standen ziemlich eng zusammen, durch zwei tiefe senkrechte Linien der Missbilligung getrennt. Dreißig Jahre lang hatten diese Augen sie beobachtet. Und selbst jetzt, nach einer Woche des Alleinseins, hatte sie manchmal das unbehagliche Gefühl, sie seien noch da, folgten ihr, starrten sie aus den Türen an, von leeren Stühlen oder nachts durch ein Fenster.