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Langsam griff sie in die Handtasche, nahm ihre Brille heraus und setzte sie auf. Sie hielt die Blätter ziemlich hoch, damit das Licht des späten Nachmittags über ihre Schultern hinweg darauf fiel, und begann zu lesen:

Diese Aufzeichnungen, meine liebe Mary, sind nur für Dich bestimmt, und Du wirst sie bald nach meinem Ableben erhalten.

Erschrick nicht, wenn Du all dies Geschriebene siehst. Es ist nur ein Versuch, Dir genau zu erklären, was Landy mit mir vorhat, warum ich ihm die Erlaubnis dazu gegeben habe und worin seine Theorien und seine Hoffnungen bestehen. Du bist meine Frau und hast ein Recht, das alles zu erfahren. In den letzten Tagen habe ich mich immer wieder bemüht, mit Dir über Landy zu sprechen, aber Du hast Dich beharrlich geweigert, mich anzuhören. Wie ich Dir bereits sagte, ist das eine sehr törichte Einstellung, die mir obendrein nicht ganz frei von Selbstsucht zu sein scheint. Du wehrst Dich hauptsächlich aus Unwissenheit, und ich bin fest überzeugt, dass Du Deine Ansicht sofort ändern würdest, wenn Dir alle Tatsachen bekannt wären. Deswegen hoffe ich, dass Du bereit sein wirst, diesen Brief mit verständnisvoller Aufmerksamkeit zu lesen, wenn ich nicht mehr bei Dir bin und Du Dich innerlich ein wenig beruhigt hast. Dann, das schwöre ich Dir, wird sich Deine Antipathie verflüchtigen und heller Begeisterung Platz machen. Ich wage sogar zu hoffen, dass Du ein wenig stolz auf das sein wirst, was ich getan habe.

Bevor Du weiterliest, bitte ich Dich, die Kühle meines Stils zu verzeihen. Nur so, in dieser Form, wird es mir gelingen, Dir meine Botschaft klar und unmissverständlich zu übermitteln. Da meine Stunde naht, ist es nur natürlich, dass ich anfange, mich allen möglichen Sentimentalitäten hinzugeben. Ich werde von Tag zu Tag empfindsamer, vor allem in den Abendstunden, und ich muss mich streng kontrollieren, damit meine Gefühle diese Seiten nicht überfluten.

So möchte ich zum Beispiel etwas über Dich, liebe Mary, schreiben, Dir sagen, was für eine gute Frau Du mir all die Jahre hindurch gewesen bist, und ich nehme mir vor, das als Nächstes zu tun, wenn ich noch Zeit und Kraft dazu habe.

Es verlangt mich auch, von meinem Oxford zu sprechen, wo ich siebzehn Jahre lang gelebt und gelehrt habe. Wie gern würde ich etwas zum Ruhm dieses Ortes sagen und zu erklären suchen, was es für mich bedeutet hat, dass ich dort wirken durfte. Alles, was ich so sehr an Oxford geliebt habe, dringt unablässig in meinem düsteren Krankenzimmer auf mich ein. Schön sind diese Bilder, strahlend wie immer, und aus irgendeinem Grunde sehe ich sie heute klarer denn je. Der Weg um den See in den Gärten des Worcester College, den Lovelace zu gehen pflegte. Der Torweg in Pembroke. Der Blick westwärts über die Stadt vom Turm des Magdalen College. Die große Halle von Christchurch. Der kleine Steingarten in St. John’s, wo ich mehr als ein Dutzend Varietäten der Campanula gezählt habe, einschließlich der zierlichen und so seltenen C. Waldsteiniana.

Aber Du siehst, kaum habe ich begonnen, da lasse ich mich schon hinreißen. Genug davon, ich fange nun mit meinem Bericht an. Lies ihn langsam, meine Liebe, ohne jede Trauer oder Ablehnung, die Dir das Verständnis erschweren würden. Versprich mir, dass Du langsam lesen und Dich zuvor in eine kühle, geduldige Stimmung versetzen wirst.

Die Einzelheiten der Krankheit, die mich mitten in meinem Leben so unerwartet niedergeworfen hat, sind Dir bekannt. Daran brauche ich also keine Zeit zu verschwenden – es sei denn, dass ich zugeben muss, wie töricht es von mir war, nicht früher zum Arzt zu gehen. Krebs ist eines der wenigen Leiden, gegen die selbst unsere neuesten Medikamente nichts auszurichten vermögen. Ein rechtzeitig vorgenommener Eingriff kann erfolgreich sein; doch ich habe nicht nur zu lange gewartet, sondern das Ding hatte obendrein die Unverschämtheit, meine Bauchspeicheldrüse zu befallen, was Operation und Überleben in gleicher Weise unmöglich macht.

So lag ich denn da, mit der Aussicht, noch einen bis sechs Monate zu leben, und wurde stündlich melancholischer – als plötzlich Landy erschien.

Er kam vor sechs Wochen, an einem Dienstagmorgen, sehr früh, lange vor Deiner Besuchszeit, und schon als er eintrat, witterte ich irgendetwas ganz Ungewöhnliches. Er ging nicht auf den Zehenspitzen wie alle anderen Besucher, die immer blöde und verlegen dreinschauen und nicht wissen, was sie sagen sollen. Frisch und lächelnd kam er an mein Bett, blickte mich mit lebhaft glänzenden Augen an und sagte: «William, mein Junge, das ist ausgezeichnet. Sie sind genau der Mann, den ich brauche.»

Vielleicht ist es besser, Dir zu erklären, dass ich seit mehr als neun Jahren mit John Landy auf recht freundschaftlichem Fuße stehe, obgleich er nicht bei uns verkehrt hat, Du ihm also selten oder nie begegnet bist. Ich selbst beschäftige mich natürlich vorwiegend mit Philosophie, habe aber, wie Du weißt, in letzter Zeit auch ziemlich viel in die Psychologie hineingepfuscht, sodass Landys und meine Interessen sich gelegentlich überschnitten. Er ist ein hervorragender Neurochirurg, einer der besten, und war vor kurzem so liebenswürdig, mir einige seiner Forschungsergebnisse zugänglich zu machen, besonders über die Wirkungen der Präfrontal-Lobotomie auf verschiedene Typen von Psychopathen. Du siehst also, dass wir uns keineswegs fremd waren, als er an jenem Dienstagmorgen unerwartet bei mir auftauchte.

«Na, mein Lieber», sagte er, während er sich einen Stuhl ans Bett zog, «in ein paar Wochen werden Sie also tot sein. Stimmt’s?»

Aus Landys Mund klang die Bemerkung keineswegs unfreundlich. Im Grunde war es erfrischend, dass endlich einmal ein Besucher den Mut hatte, das verbotene Thema anzuschneiden.

«In diesem Zimmer», fuhr er fort, «werden Sie den letzten Atemzug tun, und dann wird man Sie hinausbringen und verbrennen.»

«Begraben», sagte ich.

«Noch schlimmer. Und dann? Glauben Sie, dass Sie in den Himmel kommen?»

«Das bezweifle ich», war meine Antwort, «so tröstlich dieser Gedanke auch wäre.»

«Oder vielleicht in die Hölle?»

«Womit sollte ich das wohl verdient haben?»

«Kann man nie wissen, mein lieber William.»

«Was soll das alles?», fragte ich.

«Nun», sagte er, und ich sah, dass er mich aufmerksam betrachtete, «ich persönlich glaube nicht, dass Sie nach Ihrem Tode jemals wieder von sich hören werden – es sei denn …» Er machte eine Pause, lächelte und beugte sich ein wenig vor, «… es sei denn, Sie wären so vernünftig, sich meinen Händen anzuvertrauen. Sind Sie bereit, einen Vorschlag zu erwägen?»

Er blickte mich unverwandt an, forschend, abschätzend, mit einem merkwürdigen Ausdruck der Begierde, als wäre ich ein besonders gutes Stück Fleisch auf dem Ladentisch, das er gekauft hatte und nun einpacken lassen wollte.

«Ganz im Ernst, William, sind Sie bereit, einen Vorschlag zu erwägen?»

«Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.»

«Sie werden es gleich erfahren. Wollen Sie mich anhören?»

«Meinetwegen, wenn Ihnen so viel daran liegt. Schaden wird’s mir ja wohl nicht.»