Im Nacken spürte ich plötzlich eine harte Hand.
»Dreh dich um, Sklavin«, sagte eine Stimme.
Die Hand ließ mich los, und ich drehte mich um.
»Kenne ich dich nicht?« fragte Miles aus Argentum. Offensichtlich war er der uniformierte Mann aus Argentum, den ich zuvor in Hassans Gefolge bemerkt hatte.
»Ich glaube nicht, Herr«, sagte ich.
»Du kommst mir aber sehr bekannt vor«, sagte er und rief: »Drusus!«
Einer der Ar-Offiziere kam auf uns zu.
Unwillkürlich schnappte ich nach Luft.
»Kennst du ihn?« fragte Miles aus Argentum.
»Ich glaube es nicht, Herr«, sagte ich.
»Warum hast du dann so heftig reagiert?«
»Er ist eben ein starker und gutaussehender Offizier«, sagte ich, »und ich nur eine Sklavin.«
»Schau mal, Drusus«, sagte Miles aus Argentum, »was wir hier haben.«
»Eine Sklavin«, sagte Drusus Rencius achselzuckend. In seinen Augen glimmte nicht das geringste Wiedererkennen. Es war, als hätte er mich nie zuvor gesehen. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, doch war ich beinahe überwältigt vor Erleichterung und Dankbarkeit, ehe mir aufging, daß er mich womöglich wirklich nicht wiedererkannte.
»Dann schau noch einmal genauer hin«, sagte Miles.
»Ja?« fragte Drusus.
»Stell dir vor, daß diese Frau in den letzten drei oder vier Monaten geschoren wurde.«
»Ja?« fragte Drusus.
»Du bemerkst bestimmt die auffällige Ähnlichkeit.«
»Mit wem?«
»Na, mit Sheila, der Tatrix von Corcyrus!«
»Ja«, sagte Drusus, »eine Ähnlichkeit besteht durchaus.«
Nun war ich sicher, daß Drusus Rencius mich erkannt hatte. Als ich ihn entdeckte, war neben der Überraschung eine unglaubliche Freude durch meinen Körper geflutet, wieder in seiner Nähe zu sein. Ich hatte den Impuls unterdrücken müssen, mich vor ihn hinzuwerfen.
»Ist dies Sheila, die Tatrix von Corcyrus?« fragte Miles.
Beiläufig hob Drusus Rencius ein Stück meiner Tunika an und betrachtete das Brandzeichen. »Nein«, antwortete er, »dies ist nur eine Sklavin.«
»Verstehe«, sagte Miles aus Argentum und legte mir eine Hand unter das Kinn. »Heb den Kopf, Mädchen«, befahl er, und ich gehorchte. Er schaute mich grinsend an. »Ich könnte mir vorstellen, daß dies Sheila ist.«
»Sheila, Tatrix von Corcyrus«, sagte Drusus Rencius, »ist soeben gefangen worden.«
»Ach, wirklich?«
Drusus Rencius schwieg.
»Komm her, Mädchen«, sagte Miles. Ich kam der Aufforderung nach, und er studierte meinen Eisenkragen, der mich genau identifizierte. Ich konnte die Stadt nicht verlassen. Ich konnte nicht fliehen.
»Du kannst gehen«, sagte Miles zu mir.
»Danke, Herr«, sagte ich und hastete durch das Tor.
Draußen warteten Claudia, Crystal und Tupa.
»Was wollten die Soldaten?« fragte Claudia.
»Einer war sogar General«, sagte Crystal.
»Nichts«, antwortete ich.
»Was war der andere für ein Mann?« fragte Tupa.
»Er kommt aus Ar«, antwortete Crystal. »Er war Hauptmann.«
»Und der andere?« wollte Tupa wissen.
»Aus Argentum«, antwortete ich.
»Wo liegt denn das?«
»Im Südwesten.«
»Was wollten sie?«
»Nichts«, antwortete ich.
»Wir sollten schnellstens zur Agentur zurückkehren«, sagte Claudia. »Wir wollen nicht zu spät kommen.«
»Nein«, sagte Crystal.
Der Pförtner war ein netter Bursche, dem es nichts ausmachte, wenn wir ein wenig zu spät kamen. Trotzdem durfte man den Bogen nicht überspannen.
Die anderen Mädchen kannten den Heimweg genau, und so dauerte es nicht lange, bis wir den Platz der Tarns erreicht hatten und die Agentur betraten.
»Ihr kommt gerade noch rechtzeitig«, sagte der Pförtner und hängte unsere Scheiben um, die anzeigten, daß wir wieder im Haus waren.
»Beeilt euch, damit ihr noch etwas essen und trinken könnt«, sagte er.
»Ja, Herr«, sagten wir. »Danke, Herr.«
Vor der nächsten Korridorbiegung schaute ich noch einmal zurück. Der Pförtner schloß soeben die schwere Außentür und verriegelte sie von innen. Und ich überlegte, wer ich war.
Ich war Tiffany, Bankettsklavin in der Firma des Aemilianus am Platz der Tarns. Dies wußte ich. Viele Leute wußten es. Jeder, der meinen Kragen gelesen hatte, wußte darüber Bescheid. So auch Miles aus Argentum. Ich dachte an Miles aus Argentum. Er hatte mich gehen lassen. Damit hatte er nichts riskiert. Er wußte genau, wo er mich finden konnte, sollte es ihm darum gehen. Ich war eine hilflose, gefangene Sklavin, dem Willen der Herren hilflos ausgesetzt.
Aber zweifellos interessierte er sich nicht für mich.
Dann ging ich den Korridor entlang zur Küche, um mir etwas zu essen zu besorgen.
24
Ich hatte Angst vor Miles aus Argentum.
Er schien in mir nicht die hilflose und niedere Sklavin zu sehen, die ich war, ein Mädchen, das er auf einen Abend für sein Vergnügen gemietet hatte, sondern behandelte mich wie eine hohe Dame und eine freie Gefangene, Sheila, Tatrix von Corcyrus, an der er seine Rache vollzog – vielleicht weil sie aus seinem Lager geflohen war.
Jedenfalls hatte er keine Rücksicht auf mich genommen, wenn er mich zu sich holte.
Er mußte doch wissen, daß die echte Sheila in der Gewalt Hassans des Sklavenjägers war! Erst kürzlich hatte Hassan sie in einem goldenen Sack nach Argentum bringen lassen. Noch immer mußte sie einige Stunden am Tag in diesem goldenen Sack verbringen, der im Thronraum aufgehängt wurde, während man Staatsgeschäfte erledigte. Dieser Sack sollte übermorgen Claudius, dem Ubar von Argentum, und dem Hohen Rat als Höhepunkt eines großen Fests zum öffnen präsentiert werden.