Entsetzt schaute ich zu, wie Ligurious die Kleidung einem der Sleenwächter zuwarf. Ich kannte diese Stücke. Meine allererste Sklaventunika auf Gor; das Gewand, das ich bei der Audienz Miles’ von Argentum getragen hatte; die Robe, die ich am Tage meiner Gefangennahme trug.
Dann schob der Sleen, ein anderes Tier, seine Schnauze tief in den Stapel von Kleidungsstücken. Ich hörte ihn schniefen. Unwillkürlich beugte ich mich zurück. Die Hände des Soldaten, der hinter mir hockte, hielten mich unverrückbar fest.
Gleich darauf sprang auch dieser Sleen los. Ich schloß die Augen und schrie. Ich spürte den heißen Atem des Tiers auf meinen Brüsten. Sein Fauchen schien mich einzuhüllen. Ich spürte seine Kraft, seinen raubtierhaften Eifer und hörte das Schnappen seiner Kiefer.
Auf ein Wort hin wurde das Tier zurückgezogen und bekam Fleisch zu fressen. Ich zitterte. Hätte der Soldat mich nicht festgehalten, wäre ich wohl zusammengebrochen. Ich bemerkte Drusus Rencius’ verächtlichen Blick, der mir aber nichts ausmachte. Ich war kein Krieger. Ich war ein Mädchen, eine Sklavin.
»Nun seht ihr«, sagte Ligurious, »wer die echte Tatrix von Corcyrus war.«
»Mir will scheinen, daß nun jede der beiden Frauen entsprechend identifiziert wurde«, sagte Claudius, »eine aufgrund der Kleidung, die Hassan mitbrachte, die andere aufgrund der Kleidung, die du uns vorlegtest.«
»Untersucht die Siegel!« sagte Ligurious triumphierend. »Überzeugt euch, welche Sendung das echte Siegel von Corcyrus trägt!«
Die erbrochenen Siegel wurden Claudius vorgelegt. Er deponierte sie vor sich auf den Tisch. Mitglieder des Hohen Rates umdrängten ihn.
»Das Siegel, das sich an Ligurious’ Paket befand«, sagte er, »ist das Siegel von Corcyrus.«
»Das kann nicht sein!« rief Hassan.
»Vielleicht gibt man dir zwei Ahn Zeit, Argentum zu verlassen«, sagte Ligurious.
»Ich habe den Brief von Menicius!« sagte Hassan.
»Zweifellos wird er das gleiche Siegel tragen, das sich auch auf dem Paket befindet«, sagte Ligurious«
»Ja«, erwiderte Hassan.
»Ich habe ebenfalls einen solchen Brief, aber einen echten«, sagte Ligurious. »Darin werden die Kleidungsstücke beschrieben und für echt erklärt. Dieser Brief trägt die Unterschrift Menicius’ und ist mit dem echten Siegel von Corcyrus unterfertigt.« Er griff in seine Robe und zog einen von einem Bändchen zusammengehaltenen Brief hervor; das Bändchen war mit einem Siegel gesichert.
Das Siegel wurde untersucht.
»Dies ist das Siegel von Corcyrus«, sagte Claudius.
Das Schreiben wurde geöffnet und studiert.
»Die Beschreibungen passen zu den Kleidungsstücken, die Ligurious uns vorgelegt hat«, sagte ein Mitglied des Hohen Rates.
»Wer hat den Brief unterzeichnet?« fragte Ligurious.
»Menicius«, sagte ein Mitglied des hohen Rates und hob den Kopf.
»Ich glaube nicht!« sagte eine Stimme.
Alle Blicke richteten sich auf den hinteren Teil des Raumes. Dort erhob sich der verhüllte Gast.
»Wer wagt mir da zu widersprechen?« fragte Ligurious.
Mit zwei Händen schob der Gast seine Kapuze zurück.
»Ich glaube, ich bin mehreren Anwesenden bekannt«, sagte er. »Einige von euch waren anwesend, als ich in mein Amt als Administrator von Corcyrus eingeführt wurde.«
»Menicius!« riefen Stimmen durcheinander.
Ligurious schien das Gleichgewicht zu verlieren.
»Mein lieber Ligurious«, sagte Menicius, »dein Komplice in Corcyrus ist längst verhaftet. Er hat alles gestanden. Danach erschien es mir interessant, inkognito nach Argentum zu reisen, mit dem Paß eines unwichtigen Gesandten, den ich mir selbst ausgestellt hatte.«
Wie verblüfft ich war! Ich erkannte diesen bisher unbekannten Gast sofort. Ich hatte ihn als Menicius aus der Kaste der Metallarbeiter kennengelernt. Er war der Mann, dessen Leben ich verschont hatte, als er sich kritisch über die Tatrix äußerte, an jenem Tag vor langer Zeit, als ich mit Ligurious durch die Straßen zog. Zweifellos erinnerte sich auch Drusus Rencius an den Mann, denn er hatte ihn daran gehindert, meine Sänfte zu stürmen.
»Ich fand es sehr interessant zu erfahren, daß du der Anführer der Opposition gegen die Herrschaft der Tatrix warst«, fuhr Menicius fort. »Ich dachte bisher, daß diese Ehre mir gebührte.«
Ligurious blickte sich hilflos um.
»Ich schlage vor, diesen Mann in Ketten zu legen«, sagte Menicius.
»Ja, es soll geschehen!« befahl Claudius. Zwei Wächter traten an Ligurious’ Seite und fesselten ihm die Hände auf dem Rücken.
»Die Siegel auf dem Paket und dem Brief Hassans waren echt«, sagte Menicius. »Natürlich ist klar, daß sie euch fremd waren. Sie zeigen das neue Siegel von Corcyrus. Wir mußten nämlich nach der Einsetzung des neuen Regimes feststellen, daß das alte Siegel fehlte. Vermutlich war es von Ligurious bei seiner Flucht mitgenommen worden. Das scheint nun bewiesen zu sein. Aus diesem Grund, und auch um den Beginn einer neuen Ordnung in Corcyrus zu feiern, wurde das Siegel geändert.«
Ligurious blickte zu Boden.
Menicius blieb vor Sheila und mir stehen. »So sieht man sich wieder«, sagte er zu mir.
»Ja, Herr«, antwortete ich.
»Wer bist du?« fragte er.
»Mein Herr ist Miles aus Argentum«, sagte ich. »Er hat mich Sheila genannt.«
»Du machst dich gut in Sklavenketten, Sheila«, sagte er.
»Und wer bist du?« fragte er die andere Sheila.
»Mein Herr ist Hassan aus Kasra«, antwortete sie. »Er hat mich Sheila genannt.«
Menicius zog unter seiner Robe ein Päckchen hervor, öffnete es und zeigte seinen seidigen Inhalt herum.
Sheila sank erschaudernd noch tiefer vor ihm zusammen.
»Dies sind weitere Kleidungsstücke aus Corcyrus«, verkündete er. »Sie stammen aus dem Besitz der Tatrix, gefunden in ihren Gemächern im Palast.« Er wandte sich an Sheila. »Vielleicht erkennst du sie?«
»Gib nichts zu!« rief Ligurious.
Das Mädchen blickte Hassan an, dessen Gesicht ausdruckslos blieb.
»Seht euch die Stücke an«, fuhr Menicius fort. »Denkt über sie nach. Sie sind eindeutig barbarischen Ursprungs! Nur wenige Sklavinnen, die auf diese Welt kommen, treffen hier bekleidet ein, und keine darf ihre Sachen behalten!«
Dies verstand jeder der Anwesenden. Es gibt auf Gor ein Sprichwort, daß jeder, der seine Sklavinnen bekleidet kauft, ein Dummkopf ist.
»Die Tatrix von Corcyrus dagegen war zwar Barbarin, durfte aber anscheinend ihre Kleidung behalten. Und ihre Freiheit. Die wurde ihr erst kürzlich von Hassan aus Kasra genommen.«
Männer nickten sich zu.
»Einige von uns«, fuhr Menicius fort, »sind mit den erschreckenden Gerüchten vertraut, daß es auf Gor und anderswo Kräfte gibt, die die Macht der Priesterkönige herausfordern wollen, jener seit Urzeiten über Gor herrschenden Mächte.«
Angstvoll blickte man sich an. Manchmal wollte mir scheinen, als wären die Priesterkönige nichts anderes als Sagenwesen. Jedenfalls mischten sie sich, soweit ich das beurteilen konnte, kaum in die Angelegenheiten Gors ein. Andererseits war mir klar, daß irgend jemand oder irgend etwas in Opposition zu den Kräften stehen mußte, die mich nach Gor gebracht hatten, Kräfte, die beispielsweise die Weltraumfahrt beherrschten. Die Goreaner allein, mit ihren Schwertern und Speeren, hätten ihnen keinen Widerstand leisten können. Die Heimlichkeit, mit der diese Leute vorgingen, obwohl sie so mächtig waren, ließ auf die Existenz einer eindrucksvollen Gegenkraft schließen, die auf Gor bei den Priesterkönigen vermutet wurde.
»Es erscheint mir denkbar«, fuhr Menicius fort, »daß solche Kräfte Schätze und barbarische Agenten auf diese Welt bringen, die womöglich keinerlei goreanische Bindungen haben und sich voll und ganz für die Fremden einsetzen. Außerdem können sie natürlich eingeborene Goreaner für ihre Zwecke anwerben. Welche andere Erklärung gibt es dafür, daß eine barbarische Frau wie Sheila in Corcyrus als Tatrix an die Macht kommen konnte? Ich vermute außerdem, daß der Angriff auf die Bergwerke von Argentum nicht erfolgte, um Corcyrus volle Schatztruhen zu bescheren, das bereits sehr reich war, sondern daß es um die ökonomische Ergänzung der Ressourcen jener anderen Macht ging. Sie hatte vielleicht die Absicht, unsere Welt auf subversivem Wege zu unterwandern, Stadt für Stadt, oder eine Städteliga zu bilden, die eine gewisse Vorherrschaft erringen konnte. So etwas ließ sich vermutlich auch innerhalb der Waffengesetze und technologischen Begrenzungen erreichen, die von den Priesterkönigen ausgesprochen worden waren.«