Menicius holte kurz Luft. »So unvorstellbar diese Gedanken erscheinen mögen, sie sind in gewisser Weise plausibel. Ich habe dazu zwei konkrete Beweise anzuführen. Erstens fanden sich vor Corcyrus auf einem großen Feld runde verbrannte Abdrücke, geometrisch sehr exakt, als wäre dort ein riesiger, runder, erhitzter mechanischer Vogel niedergegangen. Zweitens stießen wir im eigentlichen Palast in einer unterirdischen Kammer auf Gerüche, Kot und andere Spuren eines großen unbekannten Ungeheuers, das dort anscheinend hauste, möglicherweise jeweils nur kurzzeitig. Jedenfalls schien es sich rechtzeitig vor dem Sturz der Stadt abgesetzt zu haben.«
Ligurious hob den Blick nicht von den Fliesen.
»Ligurious?« fragte Claudius.
»Ich weiß nichts von diesen Dingen«, sagte der Gefragte achselzuckend.
»Wollen wir sehen, wem diese Kleidung gehört?« fragte Menicius.
»Ja, ja!« riefen mehrere Männer.
»Bitte, nein, Herr, nicht die Sleen!« begann Sheila zu weinen. »Darf ich sprechen?«
»Ja.«
»Ich gestehe alles!« rief sie. »Ich war die echte Tatrix von Corcyrus. Die Frau neben mir ist unschuldig. Sie wurde als ahnungsloser Sündenbock nach Gor gebracht, für den Fall, daß unsere Pläne schiefgingen. Sie konnte keine richtige Macht ausüben. Was immer an Verbrechen begangen wurde – ich trage daran die Schuld, oder die Frau, die ich einmal war. Es ist deshalb nicht nötig, uns beide aufzuspießen. Ich allein bin die Frau, die ihr sucht. Ich wurde in Ar von Hassan aus Kasra gefangengenommen, der jetzt mein Herr ist. Die Belohnung von fünfzehnhundert Goldstücken gehört rechtmäßig ihm. Ich bin bereit, Claudius, dem Ubar von Argentum, ausgeliefert zu werden.«
»Närrin!« fauchte Ligurious und bäumte sich in seinen Fesseln auf.
Beinahe ungläubig starrte ich Sheila an. Sie hatte ihre Identität eingestanden. Ich war von allen Anschuldigungen freigesprochen worden.
»Was ist mit Menicius’ Mutmaßungen über fremde Mächte, über Angelegenheiten der Priesterkönige und anderer?« fragte Claudius.
»Sie treffen zu, Herr«, sagte sie.
»Schweig still!« rief Ligurious.
»Sprich«, sagte Claudius.
»Vorsicht, Claudius«, schaltete sich ein Mann ein. »Bedenke, ob es richtig ist, wenn sich bloße Sterbliche für solche Dinge interessieren.«
»Solche Dinge sind sicher nur für Träger des Zweiten und Dritten Wissens bestimmt«, sagte ein anderer.
»Wir sind keine Wissenden«, meinte ein dritter. »Unser Status, unser Prestige und unser Einkommen hängen nicht von der Verbreitung von Ignoranz und der Förderung des Aberglaubens ab!«
»Ketzerei!« rief eine Stimme.
»Sicher ist es gut, sich mit solchen Dingen zu befassen«, meinte jemand, »wenn das umsichtig und mit Respekt geschieht.«
»Ich meine«, schaltet sich Claudius ein, »in dieser Angelegenheit sind unsere Ängste wie auch unsere Eitelkeiten fehl am Platze. Ich bin sicher, daß Götter beispielsweise das Silber Argentums nicht gebraucht hätten, ebensowenig wie sie feuerspuckende Schiffe brauchten, um die langen, dunklen Straßen zwischen den Welten zurückzulegen. Götter, so möchte ich meinen, hinterlassen keine Spuren in unterirdischen Verliesen und auch keine tiefen Wunden in abgelegenen Grasflächen. Die Ungeheuer, von denen wir hier sprechen, sind meines Erachtens Geschöpfe, die essen und atmen.«
»Dann sprechen wir also nicht von Priesterkönigen«, sagte ein Mann erleichtert.
»Wer weiß schon, wie Priesterkönige beschaffen sind?« wollte jemand wissen.
»Manche behaupten, sie haben gar keine Gestalt!« rief eine Stimme, »sie existieren lediglich!«
»Andere sagen, sie besitzen keine Materie«, warf ein Mann ein, »nur daß sie real sind.«
»Gewiß sind sie wie wir, nur größer und mächtiger.«
»Verschwenden wir keine Zeit mit nutzlosen Spekulationen!« rief ein Mann.
»Sprich!« wandte sich Claudius an Sheila.
»Es geht um zwei Welten, Herr«, sagte sie, »Gor und die Welt, die Erde heißt.«
»Lügnerische Sklavin!« rief ein Mann. »Die Erde ist ein Sagengebilde. Es gibt sie nur in Geschichten. Sie existiert nicht.«
»Verzeih mir, Herr«, widersprach Sheila, »aber es gibt die Erde doch, das versichere ich dir. Ich bin dort geboren, was auch für die Sklavin rechts von mir gilt.«
Der Mann musterte mich eindringlich.
»Ja, Herr«, flüsterte ich angstvoll.
»Daß die Erde wirklich existiert, gehört zum Zweiten Wissen«, sagte einer der Männer, dessen gelbe Tunika ihn als Angehörigen der hohen Kaste der Hausbauer auswies.
»Das wurde ich auch gelehrt«, sagte der Mann neben ihm, offenbar ein Kollege. »Meinst du, es stimmt wirklich?«
»Ich nehme es an«, sagte der erste Mann. Die klassischen Bildungsschichten auf Gor haben etwas mit Kastengrenzen zu tun: das Erste Wissen genügt für die unteren Kasten, das Zweite Wissen wird den höheren Kasten zuteil. Daß es ein Drittes Wissen gab, das der Priesterkönige, ist eine weit verbreitete Überzeugung.
»Um Gor und die Erde«, fuhr Sheila fort, »geht es bei einem Kampf titanischer Kräfte, der Kräfte jener, die ihr Priesterkönige nennt und jener, die man sich als die Anderen, als die Ungeheuer vorstellt.«
»Und was sind das für Ungeheuer?« fragte Claudius.
»Ich habe nie eines gesehen«, erwiderte sie.
»Ligurious?«
»Ich möchte nicht antworten«, sagte der Mann mürrisch.
»Sprich weiter«, sagte Claudius zu Sheila.
»Sowohl die Priesterkönige als auch die Ungeheuer besitzen gewaltige Waffen und beherrschen die Weltraumfahrt«, berichtete sie. »Seit Generationen, so habe ich erfahren, flammen immer wieder Kämpfe zwischen ihnen auf. Immer wieder kommt es zu Vorstößen und Scharmützeln. Bisher hat die grobe Gewalt sich nicht durchsetzen können. In mancher Hinsicht scheinen die Priesterkönige tolerante und defensiv eingestellte Wesen zu sein. Zum Beispiel gestatten sie, daß gestrandete Ungeheuer auf Gor weiterleben dürfen, vorausgesetzt, sie richten sich nach ihren Waffen- und Technologiegesetzen. Und bisher haben sie die Ungeheuer nie bis in ihre Stahlwelten im All verfolgt. Die Ungeheuer, die Gor bis heute nicht in direktem Kampf erobern konnten, versuchen jetzt, so meine ich, diese Welt mit subversiven Mitteln zu unterwandern, indem sie auf die Politik und die Beziehungen zwischen Städten einwirken. Auf diese Weise hoffen sie eine direkte Invasion dieser Welt vielleicht doch noch durchführen zu können, die dann durch eine Anzahl strategisch plazierter Städte oder Städtebünde unterstützt werden könnte. Genaues weiß ich in diesem Punkt nicht und kenne darin nur meine eigene Rolle. Mit Unterstützung der Ungeheuer und mit Einfluß von Ligurious, dem ersten Minister von Corcyrus, kam ich in dieser Stadt an die Macht. Gestützt von der Macht und dem Reichtum der Ungeheuer und assistiert von Ligurious, herrschte ich in meinem Reich. Das Leben als Tatrix gefiel mir bald sehr, und ich konnte feststellen, daß meine Macht sehr real war. Dies betörte mich. In mir erwuchs der Ehrgeiz, Corcyrus’ Einfluß zu mehren und vor allem zum eigenen Vorteil die Silberbergwerke Argentums zu erobern. In diesen Dingen überschritt ich meine Macht. Gegen sein besseres Wissen setzte Ligurious, zumindest im Anfang, mein Begehren gegen die Ungeheuer durch und schützte mich vor ihnen, indem er sie dazu brachte, meine Vorschläge zu akzeptieren. Ligurious war geblendet von mir. Ich verführte ihn förmlich zu meinen Projekten. Ich spielte mit seinen Gefühlen, ich nutzte seine Empfindungen aus. Ich ließ ihn tanzen wie eine Marionette. Ich raubte ihm seine Führungskraft und Männlichkeit.«