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Wie oft hatte er das schon gehört? Hundertmal? Tausendmal? Ichbin unschuldig.

Er sagte:»Das Gericht hat Sie aber für schuldigbefunden. Ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben: Machen Sie sich das Leben hier nicht unnötig schwer. Nehmen Sie es locker. Versuchen Sie es zumindest. Wenn Sie Ihre Lage akzeptieren, werden Sie sich sehr viel leichter tun. Uhren zählen nicht im Gefängnis. Nur Kalender.«

Ich kann keine fünfzehn Jahre hinter Gittern sitzen, dachte Tracy verzweifelt. Lieber wäre ich tot. O Gott, laß michbitte sterben. Aber das darf ich ja nicht, oder? Denn das Kind würde mit mir sterben. Es ist auch dein Kind, Charles. Warum hilfst du mir nicht? Und das war der Moment, in dem sie ihn zu hassenbegann.

«Wenn Sie Probleme haben«, sagte DirektorBrannigan,»ich meine, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann kommen Siebitte zu mir. «Er wußte genau, wie hohl seine Worte klangen. Sie war jung und schön und unverdorben. Die lesbischen Mannweiber im Gefängnis würden über sie herfallen wie die Tiere. Er konnte ihr nicht einmal eine Zelle zuweisen, in der sie sicher war. In fast allen Zellen führte ein

Mannweibdas Kommando. Brannigan hatte von nächtlichen Vergewaltigungen in den Duschräumen, auf der Toilette und auf den Fluren gehört. Aber nur gerüchtweise. Denn die Opfer hielten danach den Mund. Oder sie waren tot.

DirektorBrannigan sagte freundlich:»Bei guter Führung können Sie in zwölf Jahren entlassen werden, vielleicht auch schon in…«

«Nein!«Es war ein Schrei der schwarzen Verzweiflung, der tiefen Hoffnungslosigkeit. Tracy hatte das Gefühl, daß die Wände desBüros sie erdrückten. Dann war sie auf denBeinen und schrie. Der Wärter stürzte insBüro und packte Tracybei den Armen.

«Sachte«, sagteBrannigan.

Er saß ratlos da und sah zu, wie Tracy abgeführt wurde.

Sie ging durch endlose Korridore, an Zellen mit Frauen jeder Art vorbei. Die Frauen waren schwarz und weiß undbraun und gelb. Sie starrten Tracy an, sie sprachen sie an in Dutzenden von Akzenten, sie riefen es ihr nach, sie psalmodierten es fast, und es war immer dasselbe:»Eine neue Fotze, eine neue Fotze!«

6

InBlock C saßen sechzig Frauen ein, in jeder Zelle vier. Gesichter lugten zwischen Gitterstäben hindurch, als Tracy den stinkenden Flur entlanggeführt wurde. Der Ausdruck in diesen Gesichtern war unterschiedlich: teils Gleichgültigkeit, teils Gier, teils Haß. Tracy schritt als Fremde durch ein seltsames, unbekanntes Land. Und es war alles ein Traum. Sie war stumm, aber in ihr gellten Schreie. Der Gang zum Direktor war ihre letzte Hoffnung gewesen. Jetzt gabes nichts mehr. Nichts als die niederschmetternde Aussicht, die nächsten fünfzehn Jahre hier eingesperrt zu sein.

Die Aufseherin schloß eine Zellentür auf.»Rein mit dir.«

Tracy schaute in die Zelle. Drei Frauenblickten ihr schweigend entgegen.

«Nun mach schon«, befahl die Aufseherin.

Tracy zögerte. Dann trat sie in die Zelle. Die Tür fiel krachend hinter ihr zu.

Sie war zu Hause.

Es war eng in der Zelle. Die vier Pritschen, der kleine Tisch mit dem Spiegel drüber, durch den ein Sprung lief, die vier schmalen Spinde und die Toilette ohneBrille in der Ecke hatten kaum darin Platz.

Die drei Frauen starrten Tracy an. Die Puertoricanerinbrach das Schweigen.»Sieht ganz so aus, als hätten wir 'ne Neue. «Sie hatte eine tiefe, gutturale Stimme. Und sie wäre schön gewesen ohne die violette Narbe, die ein Messer hinterlassen hatte und die von der Schläfebis zum Hals lief. Sie schien nicht älter als vierzehn zu sein. Bis man ihr in die Augen sah. Eine dicke Mexikanerin in mittleren Jahren sagte:»Hallo. Wegen was haben sie dich denn eingeknastet, Querida?«

Tracy war so gelähmt, daß sie nicht antworten konnte.

Die dritte Frau war eine Schwarze. Fast einsachtzig groß, mit schmalen, lauernden Augen und einem maskenhaft starren und harten Gesicht. Sie hatte sich den Schädel kahlrasiert. Er glänztebläulich im trüben Licht.»Das da in der Ecke — das ist deine Pritsche.«

Tracy ging zu der Pritsche. Die Matratze starrte vor Dreck. Sie war fleckig von den Ausscheidungen Gott weiß wie vieler Frauen. Tracy konnte sich nicht dazu überwinden, sie auch nur zuberühren. Unwillkürlich verlieh sie ihrem Ekel Worte.»Auf… auf dieser Matratze kann ich nicht schlafen.«

Die dicke Mexikanerin grinste.»Mußt du auch nicht, Schätzchen. Du kannst gern auf meiner schlafen.«

Tracy wurde sich plötzlich einer Unterströmung in der Zellebewußt, die sie wie eine Naturgewalt traf. Die drei Frauen ließen sie nicht aus den Augen, musterten sie, stierten sie an. Tracy fühlte sich nackt. Eine neue Fotze. Sie hatte auf einmal schreckliche Angst. Das ist alles nur Einbildung, dachte sie. Oh, wenn es doch nur Einbildung wäre…Bitte.

Jetzt konnte sie wieder sprechen.»An… an wen kann ich mich wenden, damit ich eine saubere Matratze kriege?«

«An Gott«, knurrte die Schwarze.»Bloß — der war in letzter Zeit nicht hier.«

Tracy drehte sich um undbetrachtete die Matratze von neuem. Mehrere große schwarze Kakerlaken krabbelten darüber. Ich kann hier nichtbleiben, dachte Tracy. Hier werde ich verrückt.

Als hätte sie ihre Gedanken erraten, sagte die Schwarze:»Man gewöhnt sich an alles, Baby.«

Tracy hörte die Stimme des Gefängnisdirektors: Ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben: Machen Sie sich das Leben hier nicht unnötig schwer. Nehmen Sie es locker. Versuchen Sie es zumindest…

Die Schwarze sprach weiter.»Ichbin Ernestine Littlechap.«

Sie nickte in die Richtung der Frau mit der langen Narbe.»Das ist Lola. Sie ist aus Puerto Rico. Der Fettsack hier ist Paulita aus Mexiko. Und werbist du?«

«Ich… ichbin Tracy Whitney. «Fast hätte sie gesagt:»Ich war Tracy Whitney. «Sie hatte dasbeklemmende Gefühl, daß sie ihre Identität verlor. Sie empfand einen entsetzlichenBrechreiz und hielt sich an der Kante der Pritsche fest.

«Wobist du her, Schätzchen?«fragte die dicke Mexikanerin.

«Es tut mir leid, aber… aber ich habe keine Lust zu reden. «Tracy fühlte sich plötzlich so schwach, daß sie nicht mehr stehen konnte. Sie ließ sich auf die Kante der dreckigen Pritsche sinken und wischte sich mit ihrem Rock den kalten Schweiß von der Stirn. Mein Kind, dachte sie, ich hätte dem Direktor sagen sollen, daß ich ein Kind erwarte. Wenn ich's ihm sage, bekomme ich eine saubere Zelle. Vielleicht sogar eine für mich allein.

Sie hörte Schritte auf dem Flur. Eine Aufseherin ging an der Zelle vorbei. Tracy eilte zur Tür.»Entschuldigung«, sagte sie,»ich muß mit dem Direktor sprechen. Ich…«

«Ich schick ihn dir gleich«, erwiderte die Aufseherin über ihre Schulter hinweg.

«Sie verstehen mich nicht. Ich…«

Die Aufseherin war fort.

Tracybiß sich auf die Knöchel, um nicht zu schreien.

«Bist du krank, oder was, Baby?«fragte die Puertoricanerin.

Tracy schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht sprechen. Sie ging zu ihrer Pritsche zurück, betrachtete sie einen Moment und legte sich langsam hin. Es war ein Akt der Hoffnungslosigkeit, eine Kapitulation. Tracy schloß die Augen.

Ihr zehnter Geburtstag war der aufregendste Tag ihres Lebens gewesen. Wir gehen zu Antoine's zum Essen! hatte ihr Vater verkündet.

Zu Antoine's! Dieser Namebeschwor eine andere Welt herauf, eine Welt der Schönheit und des Glanzes und des

Reichtums. Tracy wußte, daß ihr Vater nicht viel Geld hatte. Nächstes Jahr können wir uns einen Urlaubleisten. Das war eine stehende Redensartbei ihr zu Hause. Und jetzt gingen sie zu Antoine's! Ihre Mutter zog ihr ein neues grünes Kleid an, ihr Vater platzte fast vor Stolz.

Antoine's übertraf Tracys kühnste Träume. Es war märchenhaft. Elegant und geschmackvoll eingerichtet, mit weißen Leinentischdecken und prächtigem Geschirr. Es ist ein Palast, dachte Tracy. Bestimmt kommen Könige und Königinnen hierher. Sie war zu aufgeregt, um zu essen, zu sehr damitbeschäftigt, all die schön angezogenen Männer und Frauen zubetrachten. Wenn ich großbin, schwor sich Tracy, gehe ich jeden Abend zu Antoine's und nehme meine Eltern mit.