Tracy schloß die Augen und dachte an das Wunder zurück, das sie hierher gebracht hatte…
Das kalte, dunkle Wasser schlug über ihr zusammen. Sie
ging unter, und Entsetzen erfüllte sie. Sie sank tiefer, und nun hatte sie das Kind ertastet und faßte es und zog es an die Wasseroberfläche. Amy versuchte sich inblinder Panik loszureißen, schlug mit Armen undBeinen wild um sich und zog siebeide wieder nach unten. Tracys Lungenbarsten. Sie kämpfte sich empor aus dem nassen Grab, hielt das kleine Mädchen verbissen fest und spürte, wie ihre Kräfte schwanden. Wir schaffen es nicht, dachte sie. Wir sind erledigt. Stimmen riefen, Amy wurde ihr entrissen, und sie schrie:»O Gott, nein!«Starke Hände legten sich um ihre Taille, und dann sagte jemand:»Es ist alles in Ordnung. Ganz ruhig. Es ist alles vorbei.«
Tracyblickte sich verzweifelt nach Amy um und sah, daß sie sicher und geborgen war in den Armen eines Mannes. Und kurz darauf wurden siebeide aus dem tiefen Wasser gezogen…
Das Ereignis hätte nicht mehr als ein paar Zeilen im Innenteil der Morgenblätter hergegeben, wäre da nicht der Umstand gewesen, daß eine Gefangene, die nicht schwimmen konnte, ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um die Tochter des Gefängnisdirektors zu retten. Über Nacht wurde Tracy von den Zeitungen und Fernsehkommentatoren zur Heldin gekürt. Gouverneur Haber kam mit DirektorBrannigan ins Gefängniskrankenhaus, um Tracy zubesuchen.
«Das war sehr mutig von Ihnen«, sagte der Direktor.»Sie sollen wissen, daß meine Frau und ich Ihnen sehr dankbar sind. «Er war so ergriffen, daß er mit erstickter Stimme sprach.
Tracy fühlte sich schwach und war noch ziemlich mitgenommen von dem Vorfall.»Wie geht es Amy?«
«Sie istbald wieder auf dem Damm.«
Tracy schloß die Augen. Ich hätte es nicht ertragen, wenn ihr etwas passiert wäre, dachte sie. Sie erinnerte sich der Kühle, mit der sie die Zuneigung dieses Kindes erwidert hatte, und schämte sich. Die Rettung hatte sie ihre Fluchtgelegenheit
gekostet, aber sie wußte, wenn sie noch einmal die Wahl hätte, würde sie nicht anders handeln.
Der Vorfall wurde kurz untersucht.
«Es war meine Schuld«, sagte Amy zu ihrem Vater.»Wir habenBall gespielt, und Tracy ist demBall nachgerannt und hat mir gesagt, ich soll warten, aber ichbin auf die Mauer gestiegen, damit ich siebesser sehen kann. Und dannbin ich ins Wasser gefallen. Aber Tracy hat mich gerettet, Daddy.«
Tracybliebüber Nacht zurBeobachtung im Krankenhaus, und am nächsten Morgen wurde sie in DirektorBrannigansBüro geführt. Die Medien warteten schon auf sie. Sie hatten einen untrüglichen Instinkt für herzerwärmende Storys, und so waren denn Korrespondenten von UPI und AP zugegen; die lokale Fernsehstation hatte ein Kamerateam geschickt.
Am Abend wurde Tracys Heldentat publik, und die Geschichte von der mutigen Rettung wurdebundesweit vom Fernsehen übernommen und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Time, Newsweek, People und Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften griffen die Story auf. Eine Flut vonBriefen und Telegrammenbrach über das Southern Louisiana Penitentiary for Women herein, und in allen wurde dieBegnadigung von Tracy Whitney gefordert.
Gouverneur Haber erörterte das Thema mit GefängnisdirektorBrannigan.
«Tracy Whitney sitzt hier wegen zweier Schwerverbrechen ein«, bemerkteBrannigan.
Der Gouverneur überlegte.»Aber sie hat keine Vorstrafen, nicht wahr, George?«
«Das ist richtig, Governor.«
«Also, ich kann es Ihnen ja ganz offen sagen — ich werde mächtig unter Druck gesetzt, da was zu unternehmen.«
«Ich auch, Governor.«
«Natürlich können wir uns nicht von der Öffentlichkeit
vorschreiben lassen, wie wir mit unseren Häftlingen verfahren sollen, nicht wahr?«
«Nein, gewiß nicht.«
«Andererseits«, sagte der Gouverneur nachdenklich,»andererseits hat sich die Whitney alsbemerkenswert mutig erwiesen. Sie ist eine regelrechte Volksheldin geworden.«
«Zweifellos«, bestätigteBrannigan.
Der Gouverneur zündete sich eine Zigarre an.»Was meinen Sie, George?«
GeorgeBrannigan wählte seine Worte mitBedacht.»Es ist Ihnen natürlich klar, Governor, daß ich hier persönlichbetroffenbin. Schließlich hat sie ja mein Kind gerettet. Aber abgesehen davon glaube ich nicht, daß Tracy Whitney demBild entspricht, das man sich von einer Kriminellen macht. Und ich glaube ebensowenig, daß sie in Freiheit eine Gefahr für die Gesellschaft wäre. Darum möchte ich ausdrücklichbefürworten, daß Sie siebegnadigen.«
Der Gouverneur, der demnächst seine Kandidatur für eine weitere Amtsperiodebekanntgeben wollte, wußte gute Ideen durchaus zu schätzen.»Okay. Aberbehalten wir es noch ein Weilchen für uns. «In der Politik hing alles vom richtigen Zeitpunkt ab.
Nachdem sie sich mit ihrem Mannberaten hatte, sagte Sue Ellen zu Tracy:»Der Direktor und ich würden uns sehr freuen, wenn Sie zu uns ins Haus ziehen wollten. Wir haben noch ein kleines Zimmer frei, und Sie könnten sich dann ständig um Amy kümmern.«»Vielen Dank«, antwortete Tracy.»Das mache ich gern. «Es lief wunderbar. Tracybrauchte die Nächte nicht mehr in ihrer Zelle zu verbringen, und ihreBeziehung zu Amy änderte sich vollständig. Amy liebte Tracy, und Tracy konnte ihre Zuneigung jetzt erwidern. Es war ihr eine Freude, mit diesem aufgeweckten, zärtlichen Kind zusammenzusein. Sie spielten
ihre alten Spiele, sahen Disney‑Filme im Fernsehen und schauten sichBilderbücher an. Es war fast so, als gehörte Tracy zur Familie.
Doch immer wenn sie etwas zubesorgen hatte, das sie in den Gefängnisbau führte, lief ihrBigBertha über den Weg.
«Du hast Schwein gehabt, Baby«, knurrteBigBertha.»Aber dubistbald wiederbei uns. Ich arbeite schon daran.«
Drei Wochen nach Amys Rettung spielten Tracy und Amy auf dem Hof Fangen, als Sue EllenBrannigan aus dem Haus eilte. Siebliebeinen Moment stehen undbeobachtete diebeiden.»Tracy, mein Mann hat eben angerufen. Sie sollen sofort zu ihm insBüro kommen.«
Tracy hatte plötzlich Angst. Sollte sie in den Zellentrakt zurückverlegt werden? HatteBigBertha ihren Einfluß geltend gemacht? Oder war Mrs. Brannigan zu dem Schluß gekommen, daß das Verhältnis zwischen Amy und Tracy zu innig wurde?
«Ja, Mrs. Brannigan.«
Als Tracy insBüro des Gefängnisdirektors geführt wurde, stand GeorgeBrannigan schon in der Tür.»Setzen Sie sich lieber«, sagte er.
Tracy versuchte, ihr künftiges Schicksal aus dem Ton seiner Stimme herauszuhören.
«Ich habe Neuigkeiten für Sie. «Er legte eine kleine Pause ein, war von irgendwelchen Gefühlen übermannt, die Tracy nichtbegriff.»Ich habe eben eine Weisung des Gouverneurs von Louisiana erhalten. «Wieder eine Pause.»Sie sind mit sofortiger Wirkungbegnadigt.«
Heiliger Gott, habe ich richtig gehört? Tracy scheute sich, auch nur ein Wort zu sagen.
«Sie sollen wissen«, fuhr der Direktor fort,»daß dieseBegnadigung nicht erfolgt ist, weil es mein Kind war, das Sie gerettet haben. Sie haben instinktiv so gehandelt, wie jeder
anständige Mensch gehandelt hätte. Ich habe nie glauben können, daß Sie eine Gefahr für die Gesellschaft sind. «Und lächelnd fügte er hinzu:»Amy wird Sie vermissen. Wir auch.«
Tracy war sprachlos. Der Direktor kannte ja die Wahrheit nicht: Wenn Amy nicht in den Teich gefallen wäre, hätten seine Leute Jagd auf Tracy gemacht.
«Sie werden übermorgen auf freien Fuß gesetzt.«
Tracy konnte es immer noch nicht fassen.»Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
«Siebrauchen nichts zu sagen. Wir sind hier alle sehr stolz auf Sie. Meine Frau und ich glauben, daß Sie draußen in der Welt noch große Taten vollbringen werden.«
Es stimmte also: Sie war frei. Tracy fühlte sich so schwach, daß sie sich auf den Schreibtisch des Direktors stützen mußte. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme fest und ruhig:»Ich habe viel vor, Sir.«