«Nie von ihm gehört«, hieß esbeim FBI.»Der ist wohl vom Secret Service oder von der Defense Intelligence Agency.«
Die Defense Intelligence Agency, die ebenso im dunkeln tappte wie die anderen Geheimdienste, ließ schlau verlauten:»Kein Kommentar. «Und alle waren sicher, daß die Konkurrenz Richter Henry Lawrence ins Ausland geschickt hatte.
«Hut abvor dem Mann«, sagte der Chef der CIA.»Der ist zäh. Er hat nicht gestanden, und er hat keine Namen genannt. Ich wollte, wir hätten mehr Leute wie ihn.«
Es lief alles nicht so, wie es sollte, und Anthony Orsatti wußte nicht, warum. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Pech. Erst Joe Romanos Verrat, dann die Sache mit Perry Pope, und nun war auch noch der Richter fort, in irgendeineblödsinnige Spionageaffäre verwickelt… Auf diese Männer hatte der Capo gebaut, ohne sie hatte seine MaschineBetriebsstörungen.
Joe Romano war der große Organisator der Familie gewesen, und Orsatti hatte niemanden gefunden, der seine Nachfolge antreten konnte. Die Geschäfte wurden schludrig geführt, und plötzlichbeschwerten sich Leute, die es nie gewagt hatten, den Mund aufzumachen. Man munkelte, Tony
Orsatti werde alt, er könne seine Leute nicht mehr disziplinieren, seine Organisation zerfalle.
Den letzten Stoß versetzte ihm ein Anruf aus New Jersey.
«Wir haben gehört, du hast Schwierigkeiten, Tony. Wir würden dir gern helfen.«
«Quatsch, ich habkeine Schwierigkeiten«, erwiderte Orsatti aufgebracht.»Sicher, ich hatte in letzter Zeit 'n paar kleine Probleme, aber jetzt ist alles wieder okay.«
«Wir haben da was anderes gehört. Es heißt, daß deine Stadt außer Rand undBand ist, daß niemand sie unter Kontrolle hat.«
«Ich habsie unter Kontrolle.«
«Aber es könnte ja sein, daß es dir zuviel wird. Vielleichtbist du überarbeitet. Vielleichtbrauchst du 'nbißchen Ruhe.«
«Das ist meine Stadt. Die laß ich mir nicht wegnehmen.«»He, Tony, wer hat denn was von Wegnehmen gesagt? Wir wollen dirbloß unter die Arme greifen. Die Familien hier im Osten haben sich zusammengesetzt, und wir habenbeschlossen, daß wir dir 'n paar Leute schicken. Die sollen dir eine kleine Hilfe sein. Da ist doch nichts dabei unter alten Freunden, oder?«
Orsatti lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Es war nur eins dabei: Aus der kleinen Hilfe würde eine große Hilfe werden und aus dem Schneeball eine Lawine.
Ernestine hatte zum Abendessen Fischsuppe gemacht, und die Suppe köchelte auf dem Herd, während Tracy und sie auf AI warteten. Die Septemberhitze ging allen Leuten auf die Nerven, und als AI schließlich in die kleine Wohnung trat, schrie Ernestine:»Wo warst du denn, verdammt noch mal? Die Suppe ist fast sauer geworden, und ichbin's schon lang!«
Aber AI war in einer solchen Hochstimmung, daß er sich von Ernestines Schimpferei nichtbeeindrucken ließ.»Ich habmich umgehört, Frau. Und jetzt paßt mal auf, was ich rausgekriegt
habe. «Er wandte sich Tracy zu.»Die Mafia tritt Orsatti auf die Zehen. Die Familie aus New Jersey kommt hierher und übernimmt die Stadt. «Er verzog das Gesicht zu einembreiten Grinsen.»Du hast ihn erledigt, den alten Drecksack!«Erblickte Tracy in die Augen, und sein Grinsen verschwand.»Bist du da nicht glücklich, Tracy?«
Was für ein seltsames Wort, dachte Tracy. Glücklich. Sie hatte vergessen, was esbedeutete. Sie fragte sich, obsie je wieder glücklich sein, obsie je wieder normale Gefühle empfinden würde. Seit langer, langer Zeit hatte sie nur an Rache gedacht — Rache für das, was man ihrer Mutter und ihr selbst angetan hatte. Jetzt war das Werk fast abgeschlossen, und Tracy spürte nichts als eine innere Leere.
Am nächsten Morgen ging Tracy in einBlumengeschäft.»Ich möchte, daß Sie etwas an Anthony Orsatti liefern. Einen Grabkranz mit weißen Nelken. Dazu einebreite Kranzschleife. Auf der Schleife soll >Ruhe in Frieden< stehen. «Tracy schriebeinBegleitkärtchen: Von Doris Whitneys Tochter.
DRITTES BUCH
15
PHILADELPHIA
Dienstag, 7. Oktober, 16 Uhr
Es wurde Zeit für Charles Stanhope junior. Die anderen waren Fremde gewesen, Charles dagegen war Tracys ehemaliger Liebhaber und der Vater ihres ungeborenen Kindes; er hatte ihnenbeiden den Rücken gekehrt.
Ernestine und AIbrachten Tracy zum New Orleans International Airport.
«Du wirst mir fehlen«, sagte Ernestine.»Was du hier in dieser Stadt gemacht hast — also, da setzt man sich glatt auf den Arsch. Man sollte dich zur Volksbürgermeisterin wählen.«
«Was tust du denn in Philly?«fragte AI.
Tracy erzählte denbeiden die halbe Wahrheit.»Ich fange wieder mit meinem alten Jobbei derBank an.«
Ernestine und AI tauschten einenbedeutungsvollenBlick.»Wissen die, daß du… äh… daß du kommst?«
«Nein. Aber der stellvertretende Direktor mag mich. Das dürfte eigentlich keine Probleme geben. Gute EDV‑Leute findet man nicht so leicht.«
«Na, dann viel Glück«, sagte Ernestine.»Laß von dir hören, ja? Und laß dich in nichts mehr reinziehen, Baby.«
Dreißig Minuten später war Tracy auf dem Weg nach Philadelphia.
Sie stieg in einem kleinen Hotel abund» bügelte «ihr einziges schönes Kleid, indem sie es über dieBadewanne voll heißem Wasser hängte. Am nächsten Vormittagbetrat sie um 11 Uhr dieBank und ging zu Clarence Desmonds Sekretärin,
Mae Trenton.
«Hallo, Mae.«
Die junge Frau starrte Tracy an, als wäre sie ein Gespenst.»Tracy!«Sie wußte nicht, wo sie hinschauen sollte.»Ich… wie geht's?«
«Danke, gut. Ist Mr. Desmond da?«
«Ich… keine Ahnung. Ich sehe mal nach. Augenblick. «Mae erhobsich verwirrt von ihrem Stuhl und eilte insBüro des stellvertretenden Direktors.
Ein paar Momente später kam sie wieder.»Bitte. «Als Tracy auf dieBürotür zuging, wich ihr die Sekretärin aus und verdrückte sich.
Was ist denn mit der los? fragte sich Tracy.
Clarence Desmond stand hinter seinem Schreibtisch.
«Guten Tag, Mr. Desmond. Ichbin wieder da«, sagte Tracy munter.
«Und… warum das?«Es klang unfreundlich. Eindeutig unfreundlich.
Tracy fiel aus allen Wolken. Aber sie sprach weiter.»Sie haben einmal gesagt, ich sei eine Ihrerbesten Mitarbeiterinnen, und ich habe mir gedacht…«
«Sie haben sich gedacht, daß ich Ihnen Ihren alten Jobwiedergebe?«
«Ja, Sir. Ich habe nicht verlernt, was ich konnte. Ich…«
«Miß Whitney. «Nicht mehr Tracy.»Es tut mir leid, aber das kommt überhaupt nicht in Frage. Sie haben sicher Verständnis dafür, daß unsere Kunden es nicht mit jemandem zu tun haben wollen, der wegenbewaffneten Raubes und Mordversuches im Gefängnis gesessen hat. Das wäre unvereinbar mit unseren moralischen Grundsätzen. Angesichts Ihrer Vergangenheit halte ich es auch für unwahrscheinlich, daß eine andereBank Sie anstellen wird. Und darum würde ich Ihnen empfehlen, sich eine Arbeit zu suchen, die Ihren persönlichen Umständen mehr entspricht.
Ich hoffe, Sie empfinden das nicht alsbeleidigend… so war es nicht gemeint.«
Tracy lauschte seinen Worten erst schockiert und dann mit wachsendem Zorn. Es hörte sich an, als wäre sie eine Aussätzige, als zählte sie zum Abschaum der Menschheit. Wir möchten Sie nicht verlieren. Sie sind eine von unseren wertvollsten Mitarbeiterinnen.
«Gibt es sonst noch etwas, Miß Whitney?«Es war eine Abfuhr. Tracy hätte gern noch Dutzende von Dingen gesagt. Aber sie wußte, daß es sinnlos war.»Nein. Ich glaube, Sie haben alles gesagt, Mr. Desmond. «Tracy drehte sich um und ging aus demBüro. Ihre Wangenbrannten. AlleBankangestellten schienen sie anzugaffen. Mae hatte die Nachricht verbreitet: Die Zuchthäuslerin ist wieder da. Tracy schritt mit hoch erhobenem Kopf zum Ausgang, aber innerlichbebte sie. Das dürfen sie mir nicht antun. Mein Stolz ist alles, was ich noch habe, und den lasse ich mir nicht nehmen.