Tracybliebden ganzen Tag in ihrem Hotelzimmer. Ihr war elend. Wie hatte sie nur so naiv sein können zu glauben, daß man siebei derBank mit offenen Armen empfangen würde? Sie war jetztbekannt wie einbunter Hund.»Dubist die Schlagzeile in der Philadelphia Daily News. «Soll Philadelphia doch zum Teufel fahren, dachte Tracy. Sie hatte hier noch etwas zu erledigen, aber wenn das getan war, würde sie gehen. Sie würde nach New York umziehen. Dort war sie anonym. Als sie diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte sie sichbesser.
Am Abend lud sich Tracy zum Essen ins Cafe Royal ein, eines derbesten Restaurants von Philadelphia. Nach der unerquicklichenBegegnung mit Clarence Desmond am Vormittagbrauchte sie dieberuhigende Atmosphäre dieses Lokals — gedämpftes Licht, elegante Umgebung und sanfte Musik. Siebestellte einen Cocktail, und als ihn der Kellner an
ihren Tischbrachte, blickte Tracy auf, und ihr Herz machte einen Sprung. Auf der anderen Seite des Raumes saßen Charles und seine Frau. Sie hatten Tracy noch nicht gesehen. Tracys erste Regung war aufzustehen und zu gehen. Sie war noch nichtbereit, Charles gegenüberzutreten, nichtbevor sie die Chance hatte, ihren Plan zu verwirklichen.
«Möchten Sie jetzt etwas zu essenbestellen?«fragte der Oberkellner.
«Ich… danke, einbißchen später. «Erst mußte sie sich überlegen, obsiebleiben wollte.
Sieblickte wieder zu Charles hinüber, und da ereignete sich etwas Erstaunliches: Es war, alsbetrachte sie einen Fremden. Sie sah einenbläßlichen, etwas vergrämten Mann in mittleren Jahren mit sich lichtendem Haar, Hängeschultern und einem unsagbar gelangweilten Gesichtsausdruck. Nicht zu fassen, daß sie einmal geglaubt hatte, sie liebe ihn, daß sie mit ihm geschlafen hatte, daß sie den Rest ihres Lebens mit ihm hatte verbringen wollen. Tracy schaute seine Frau an. Sieblickte genauso gelangweilt drein wie Charles. Das Paar machte den Eindruck von zwei Menschen, die auf immer und ewig aneinandergefesselt sind. Sie saßen nur da, nichts weiter, sprachen kein Wort miteinander. Tracy konnte sich die endlosen, öden Jahre vorstellen, die vor denbeiden lagen. Keine Liebe. Keine Freude. Das ist Charles Strafe, dachte Tracy und fühlte sich plötzlich erleichtert. Sie war frei von den Ketten, die sie gebunden hatten.
Tracy winkte dem Oberkellner und sagte:»Ich möchte jetztbestellen.«
Es war vorbei. Die Vergangenheit war endgültigbegraben.
Erst als Tracy an diesem Abend in ihr Hotel zurückkehrte, besann sie sich darauf, daß ihr noch Geld aus dem Angestelltenfonds derBank zustand. Sie rechnete nach. Es waren genau 1735 Dollar und 65 Cent.
Sie schriebeinenBrief an Clarence Desmond. Zwei Tage
später erhielt sie Antwort von Mae.
Liebe Miß Whitney,
in Erwiderung Ihres Ersuchens hat mich Mr. Desmond
gebeten. Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Anteil der
moralischen Grundsätze unseres Hauses wegen in den
allgemeinen Fonds überführt worden ist. Er möchte
Ihnen versichern, daß er persönlich keinen Groll gegen
Sie hegt.
Mit freundlichen Grüßen
Mae Trenton
Sekretärin des stellvertretenden Direktors
Tracy konnte es nicht fassen. Diese Leute stahlen ihr Geld undberiefen sich dabei auf die moralischen Grundsätze derBank! Sie war empört. Von denen lasse ich mich nichtbetrügen, schwor sie sich. Mich wird niemand mehrbetrügen.
Zwei Tage später stand Tracy vor dem Eingang der Philadelphia Trust and FidelityBank. Sie trug eine lange schwarze Perücke und dickes, dunkles Make‑up mit einerbrandroten Narbe auf der Wange. Wenn etwas verkehrt lief, würde es die Narbe sein, an die sich die Leute erinnerten. Tracy fühlte sich nackt trotz ihrer Verkleidung, denn sie hatte fünf Jahre lang in dieserBank gearbeitet, und hier saßen Menschen, die sie gut kannten. Sie würde höllisch aufpassen müssen, um sich nicht zu verraten.
Sie zog die Verschlußkappe einer Flasche aus ihrer Handtasche, steckte sie in ihren Schuh und hinkte in dieBank. Die Schalterhalle war voll von Kunden, denn Tracy hatte die Zeit gewählt, zu der hier der größte Andrang herrschte. Sie hinkte zu einem der Kundenberatungstische. Der Mann dahinterbeendete gerade ein Telefonat. Dann sagte er:»Ja?«
Es war John Creighton, ein Fanatiker, der Tracy in all den Jahren, die siebei derBank gearbeitet hatte, zur Weißglut
getrieben hatte. Er haßte Juden, Schwarze und Puertoricaner, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Und nun wies nichts in seinem Gesicht darauf hin, daß er Tracy wiedererkannte.
«Buenas dias, Senor. Ich möchte hier ein Konto eröffnen«, sagte Tracy. Sie sprach mit mexikanischem Akzent, dem Akzent, den sie monatelangbei ihrer Zellengenossin Paulita gehört hatte.
Creightonblickte sie geringschätzig an.»Name?«
«Rita Gonzales.«
«Und wieviel möchten Sie auf das Konto einzahlen?«
«Zehn Dollar.«
«Scheck oderbar?«fragte Creighton höhnisch.
«Bar.«
Tracy nahm umständlich einen zerknitterten, halbeingerissenen Zehndollarschein aus ihrer Handtasche und gabihn Creighton. Er schobihr ein Formular zu.
«Füllen Sie das mal aus…«
Tracy hatte nicht die Absicht, hier etwas Handschriftliches zu hinterlassen. Sie zog die Stirn kraus.»Tut mir leid, Senor. Ich habe mir die Handbei einem Unfall verletzt. Füllen Sie'sbitte für mich aus?«
Creighton gabein verächtliches Schnauben von sich. Diese analphabetischen Mexikaner.»Rita Gonzales, haben Sie gesagt?«
«Ja.«
«Anschrift?«
Sie gabihm Adresse und Telefonnummer ihres Hotels.
«Mädchenname Ihrer Mutter?«
«Auch Gonzales. Meine Mutter hat ihren Onkel geheiratet, wissen Sie.«
«Geburtsdatum?«
«20. Dezember 1958.«
«Geburtsort?«
«Cuidad de Mexico.«
«Mexiko City, meinen Sie. Unterschreiben Sie hier.«
«Ich muß die linke Hand nehmen«, sagte Tracy. Sie griff nach einem Kugelschreiber und krakelte einen unlesbaren Namenszug auf das Formular. John Creighton füllte einen Einzahlungsbeleg aus.
«Ich gebe Ihnen ein provisorisches Scheckbuch. Ihre gedruckten Schecksbekommen Sie in dreibis vier Wochen per Post.«
«Bueno. Muchas gratias, Senor.«
«Bitte, bitte.«
Erbeobachtete, wie sie aus derBank hinkte. Scheißausländer.
Es gibt zahlreiche Methoden, einen Computer zu knacken, und Tracy war EDV‑Spezialistin. Sie hatte mitgeholfen, das Sicherheitssystem der Philadelphia Trust and FidelityBank aufzubauen, und nun wollte sie es austricksen.
Ihr erster Schrittbestand darin, einen Computerladen aufzusuchen, wo sie ein Terminal fand, mit dem sie den Computer derBank anzapfen konnte. Der Laden war ein paar Straßen von derBank entfernt und fast leer.
Einbeflissener Verkäufer näherte sich Tracy.»Kann ich Ihnen helfen, Miß?«
«Nein danke, Senor. Ich will mich hierbloß umschauen.«
DerBlick des Verkäufers fiel auf einen Teenager, der mit einem Computerspielbeschäftigt war.»Entschuldigung. «Er eilte davon.
Tracy wandte sich dem Tischcomputer zu, der vor ihr stand.
Er war an ein Telefon angeschlossen. Ins System einzudringen, würde einfach genug sein, aber ohne das richtige Password war sie aufgeschmissen, und das Password wechselte täglich. Tracy hatte an derBesprechung teilgenommen, bei der man sich auf dieBenutzerkennung
geeinigt hatte.
«Wir müssen sie regelmäßig abwandeln, damit niemand unbefugt ins System eindringen kann«, hatte Clarence Desmond gesagt,»aber wir müssen sie auch möglichst einfach halten für die Leute, die rechtmäßig Zugang zu unserem Computer haben.«
DieBenutzerkennung war schließlich festgesetzt worden: eine der vier Jahreszeiten und das laufende Datum.
Tracy stellte das Terminal an und tippte die Leitzahl der Philadelphia Trust and FidelityBank. Sie hörte ein hohes, wimmerndes Geräusch und verband das Telefon mit dem Modem. Auf dem kleinenBildschirm erschien eine Schrift: