PASSWORD?
Heute war der Zehnte.
HERBST 10, tippte Tracy.
FEHLANZEIGE. Auf demBildschirm flimmerte es nur noch.
Hatten sie dieBenutzerkennung verändert? Aus den Augenwinkeln sah Tracy, wie der Verkäufer erneut auf sie zukam. Sie ging zu einem anderen Computer, betrachtete ihn flüchtig, schlenderte zwischen den Rechnern dahin. Der Verkäufer hielt inne. Die will sich wirklichbloß umschauen, dachte er. Und nun eilte er zur Tür, um ein wohlhabend wirkendes Paar zubegrüßen, das gerade eintrat. Tracy kehrte zum Tischcomputer zurück.
Sie dachte nach. Clarence Desmond war ein Gewohnheitstier. Also hatte er die ursprünglicheBenutzerkennung wohlbeibehalten.
Tracy versuchte es noch einmal.
PASSWORD?
WINTER 10.
FEHLANZEIGE. Wieder der leereBildschirm.
Bleiben nur noch zwei Jahreszeiten, dachte Tracy. Oder sie haben dieBenutzerkennung tatsächlich verändert. Na, versuchen wir's noch mal.
PASSWORD? FRÜHLING 10.
DerBildschirmbliebeinen Moment leer. Dann leuchtete eine neue Schrift auf: BITTE WEITER. Tracy tippte: TRANSAKTION INLAND. Auf demBildschirm erschienen die möglichen Transaktionen:
WOLLEN SIE
A GELD EINZAHLEN
BGELD ÜBERWEISEN
C GELD VOM SPARKONTO ABHEBEN
D GELD VOM SCHECKKONTO ABHEBEN
BITTE WÄHLEN SIE
Tracy tippteB ein. Eine neue Schrift tauchte auf.
HÖHE DESBETRAGES? VON wo NACH wo?
Tracy tippte: ALLGEMEINER FONDS AN RITA GONZALES. Bei der Höhe desBetrages zögerte sie einen Moment. Verlockend, dachte sie. Da sie jetzt im System war, hätte der Computer ihr keine Grenzen gesetzt. Sie hätte Millionen nehmen können. Aber sie war keine Diebin. Sie wollte nur das haben, was ihr rechtmäßig zustand.
Also tippte sie die 1735 Dollar und 65 Cent ein und fügte Rita Gonzales Kontonummer hinzu. Der Betrag würde ihr
unverzüglich gutgeschrieben werden.
Der Verkäufer näherte sich wieder. Diesmal stirnrunzelnd. Tracy drückte rasch eine Taste, und derBildschirm war leer.
«Wollen Sie diesen Rechner kaufen, Miß?«
«Nein danke, Senor«, sagte Tracy.»Ich versteh nix von Computern.«
Vom nächsten Drugstore aus rief sie dieBank an und ließ sich mit der Oberbuchhalterin verbinden.
«Hallo. Hier Rita Gonzales. Ich möchte mein Scheckkonto transferieren, und zwar zur Hauptstelle der First HanoverBank in New York City.«
«Ihre Kontonummer, Miß Gonzales?«
Tracy nannte sie.
Eine Stunde später hatte sie das Hotel verlassen und war auf dem Weg nach New York.
Als die First HanoverBank am nächsten Morgen um zehn ihre Pforten öffnete, war Rita Gonzales da, um alles Geld von ihrem Konto abzuheben.
«Wieviel ist denn drauf?«fragte sie.
Der Mann am Schalter sah nach.
«Eintausendsiebenhundertfünfunddreißig Dollar und
fünfundsechzig Cent.«
«Stimmt.«
«Möchten Sie einenbestätigten Scheck, Miß Gonzales?«
«Nein danke, Senor«, sagte Tracy.»Ich habkein Vertrauen zuBanken. Ich nehm's inbar.«
Tracy hattebei ihrer Entlassung aus dem Gefängnis die üblichen zweihundert Dollarbekommen, dazu den kleinenBetrag, den sie sich als Kindermädchen verdient hatte, aber auch mit dem Geld aus dem allgemeinen Fonds der Philadelphia Trust and FidelityBank hatte sie keine finanzielle Sicherheit. Sie mußte so schnell wie möglich einen Jobfinden.
Tracy stieg in einembilligen Hotel in der Lexington Avenue
abundbegann, Bewerbungen an New YorkerBanken zu schicken, in denen sie sich als EDV‑Expertin empfahl. Sie mußte entdecken, daß der Computer plötzlich ihr Feind war. Ihr Leben war keine Privatangelegenheit mehr. DieBankcomputer hatten ihreBiographie gespeichert und verrieten sie jedem, der die richtigen Knöpfe drückte. Sobald ans Licht kam, daß Tracy vorbestraft war, wurde ihreBewerbung abgelehnt.
Angesichts Ihrer Vergangenheit halte ich es auch für unwahrscheinlich, daß eine andereBank Sie anstellen wird. Clarence Desmond hatte recht gehabt.
Nunbewarbsich Tracybei Versicherungen und einem Dutzend weitererBranchen, die mit EDV arbeiteten. Und stets erhielt sie negativenBescheid.
Na schön, dachte Tracy. Ich kann ja auch was anderes machen. Sie kaufte sich die New York Times und las die Stellenangebote.
Eine Exportfirma suchte eine Sekretärin.
Als Tracy in die Tür trat, sagte der Personalchef:»He, ich habSie im TV gesehen. Sie haben doch im Gefängnis ein kleines Kind gerettet, nicht?«
Tracy drehte sich um und floh.
Am nächsten Tag wurde siebei Saks in der Fifth Avenue als Verkäuferin in der Spielzeugabteilung eingestellt. Ihr Gehalt war sehr viel niedriger alsbei derBank, aber immerhin — sie konnte davon leben.
Zwei Tage später erkannte sie eine hysterische Kundin und sagte dem Abteilungsleiter, daß sie sich nicht von einer Mörderinbedienen lasse, die ein kleines Kind ertränkt habe. Tracybekam nicht einmal die Chance, eine Erklärung abzugeben. Sie wurde auf der Stelle gefeuert.
Es schien Tracy, daß die Männer, an denen sie Rache geübt hatte, doch das letzte Wortbehielten. Sie hatten sie zur Verbrecherin gestempelt, zur Ausgestoßenen. Es war eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit. Tracy wußte nicht, wovon sie leben sollte. Sie war verzweifelt. An diesem Abend machte sie Kassensturz und fand in einem Fach ihres Portemonnaies den Zettel, den ihrBetty Franciscus kurz vor ihrer Entlassung aus dem Gefängnis zugesteckt hatte:
CONRAD MORGAN,
JUWELIER,
FIFTH AVENUE 640,
NEW YORK CITY.
Er hat sich sehr für die Resozialisierung engagiert und unterstützt gern Leute, die im Gefängnis waren.
Conrad Morgan Cie. war ein hochelegantes Geschäft. Draußen vor der Tür stand ein livrierter Portier, drinnen hütete einbewaffneter Wachmann die Juwelen. Der Laden war mit geschmackvollem Understatement eingerichtet, aber der Schmuck war exquisit — und sündhaft teuer.
Tracy sagte zu der Empfangsdame:»Ich möchtebitte Mr. Morgan sprechen.«
«Sind Sie angemeldet?«
«Nein. Eine… eine gemeinsame Freundin hat mir empfohlen, ihn aufzusuchen.«
«Wie heißen Sie?«
«Tracy Whitney.«
«Einen Moment, bitte.«
Die Empfangsdame griff zum Telefon und murmelte etwas in die Muschel, das Tracy nicht verstehen konnte. Dann legte sie auf.»Mr. Morgan hat im Augenblick zu tun. Könnten Sie wohl um 18 Uhr wiederkommen?«
«Ja«, sagte Tracy.»Danke.«
Sie verließ das Geschäft und stand unsicher auf demBürgersteig. Es war ein Fehler gewesen, nach New York zu
gehen. Conrad Morgan konnte wahrscheinlich nichts für sie tun. Und warum sollte er auch? Sie war schließlich eine Fremde. Er wird mir eine Moralpredigt halten und mir ein Almosen in die Hand drücken. Ich will weder das eine noch das andere. Weder von ihm noch von jemand anderem. Ich habe das nicht nötig. Irgendwie schaff ich's schon. Zum Teufel mit Conrad Morgan. Ich gehe nicht wieder hin.
Tracy wanderte ziellos durch die Straßen von New York, an eleganten Geschäften vorbei, anbewachten Wohnhäusern, an kleinen, vollen Läden. Sie lief kreuz und quer wieblind, sah nichts, hörte nichts, war nur verbittert und frustriert.
Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie sich um 18 Uhr in der Fifth Avenue wieder, und zwar genau vor Conrad Morgan & Cie. Der Portier war fort, die Tür zu. Tracy klopfte wie zum Hohn dagegen und wandte sich ab. Doch dann ging die Tür plötzlich auf.
Ein Mann, der wie ein guter Onkel aussah, stand auf der Schwelle undblickte Tracy an. Er war glatzköpfigbis auf zweiBüschel grauen Haares über den Ohren, hatte ein vergnügtes rosiges Gesicht undblitzblaue Augen. Er erinnerte einbißchen an einen lustigen kleinen Gnom.»Sind Sie Miß Whitney?«