Sie ging wieder zu Mrs. Murphy undberichtete ihr, was geschehen war.
«Vielleicht habe ich was für Sie«, sagte Mrs. Murphy.»Das Wellington Arms sucht eine Assistentin für die Wirtschafterin. Da schicke ich Sie mal hin.«
Das Wellington Arms war ein kleines, elegantes Hotel in der Park Avenue. Hier stiegen reiche undberühmte Leute ab.
Die Wirtschafterin unterhielt sich mit Tracy, und sie wurde eingestellt. Der Jobwar nicht schwer, die Kollegen waren nett, und die Arbeitszeit war human.
Eine Woche später wurde Tracy insBüro der Wirtschafterin zitiert. Der Geschäftsführer war auch da.
«Haben Sie heute schon Suite 827 überprüft?«fragte die Wirtschafterin. In der Suite wohnte Jennifer Marlowe, eine Hollywood‑Schauspielerin. Es gehörte zu Tracys Job, alle Räume zu inspizieren und sich zu vergewissern, daß die Zimmermädchen ihre Arbeit getan hatten.
«Ja, natürlich«, sagte sie.
«Wann?«
«Um 14 Uhr. Warum? Ist was?«
Der Geschäftsführer ergriff das Wort.»Miß Marlowe ist um 15 Uhr zurückgekommen und hat festgestellt, daß ein wertvoller Diamantring verschwunden ist.«
Tracy erstarrte.
«Waren Sie im Schlafzimmer, Tracy?«
«Ja. Ich habe jedes Zimmer überprüft.«
«Und als Sie im Schlafzimmer waren… haben Sie da irgendwo Schmuck liegen sehen?«
«Ich… nein, ich glaube nicht.«
Der Geschäftsführer hakte nach.»Sie glauben es nicht? Sie sind sich nicht sicher?«
«Ich habe nicht nach Schmuck geschaut«, sagte Tracy.»Ich habe nachgesehen, obdieBetten ordentlich gemacht sind und obgenügend Handtücher da sind.«
«Miß Marlowe sagt, als sie gegangen sei, habe ihr Ring auf der Frisierkommode gelegen.«
«Davon weiß ich nichts.«
«Außer Ihnen und den Zimmermädchen kann niemand in diese Suite. Und die Zimmermädchen sind schon viele Jahrebei uns und absolut zuverlässig.«
«Ich habe den Ring nicht an mich genommen.«
Der Geschäftsführer seufzte.»Dann müssen wir eben die Polizei holen.«
«Ich war es nicht!«schrie Tracy.»Vielleicht hat Miß Marlowe den Ring auch nur verlegt.«
«Sie sind immerhin vorbestraft«, sagte der Geschäftsführer.
Da stand esbrutal im Raum. Sie sind immerhin vorbestraft…
«Ich muß Siebitten, imBüro des Hoteldetektivs zu warten, bis die Polizei kommt.«
Tracy errötete.»Ja, Sir.«
Der Hoteldetektiv führte sie in seinBüro, und Tracy fühlte sich, als wäre sie wieder im Gefängnis. Sie hatte von Menschen gelesen, die in ein wahres Kesseltreiben gerieten, weil sie vorbestraft waren, aber es war ihr nie eingefallen, daß ihr das auch passieren könnte. Man hatte ihr ein Etikett aufgeklebt, und man erwartete, daß sie sich dementsprechend verhielt.
Eine halbe Stunde später trat der Geschäftsführer lächelnd insBüro des Hoteldetektivs.»Miß Marlowe hat ihren Ring wiedergefunden«, erklärte er.»Sie hatte ihn tatsächlich
verlegt. Es war alles ein Mißverständnis.«
«Na, prima«, sagte Tracy.
Sie verließ dasBüro und machte sich schnurstracks auf den Weg zu Conrad Morgan & Cie.
«Es ist lächerlich einfach«, sagte Conrad Morgan.»Eine Kundin von mir, LoisBellamy, ist nach Europa gereist. Sie hat ein Haus in Sea Cliff auf Long Island. Die Dienstboten haben übers Wochenende frei. Es ist also niemand da. Alle vier Stunden schaut ein privater Wachdienst vorbei. Sie sind im Nu im Haus und wieder draußen.«
Sie saßen in Conrad MorgansBüro.
«Ich weiß über die AlarmanlageBescheid, und ich habe die Kombination des Safes. Sie müssen lediglich ins Haus gehen, mein liebes Kind, die Juwelen an sich nehmen und das Haus wieder verlassen. Siebringen mir die Juwelen, ichbreche sie aus der Fassung, schleife die größeren um und verkaufe sie weiter.«
«Wenn es so lächerlich einfach ist… warum machen Sie es dann nicht selbst?«wollte Tracy wissen.
Conrad Morgansblaue Augen glitzerten.»Weil ich nicht in New York sein werde. Wenn sich diese kleinen Zwischenfälle ereignen, bin ich immer auf Geschäftsreise.«
«Aha.«
«Falls SieBedenken haben, daß der Verlust der Juwelen Mrs. Bellamy weh tun könnte — dasbrauchen Sie nicht. Mrs. Bellamy ist eine ziemlich entsetzliche Frau. Sie hat Häuser in aller Welt, diebis unters Dach mit Wertsachen vollgestopft sind. Außerdem ist sie versichert, und zwar für das Doppelte des wahren Wertes der Juwelen. Die Schätzungen habe natürlich ich vorgenommen.«
Tracyblickte Conrad Morgan an und dachte: Ich muß verrückt sein. Hier sitze ich und rede in aller Seelenruhe mit diesem Mann über einen Juwelendiebstahl.
«Ich will nicht wieder im Gefängnis landen, Mr. Morgan.«
«Die Gefahrbesteht nicht. Von meinen Leuten ist nie jemand geschnappt worden. Jedenfalls nicht, solange sie für mich gearbeitet haben. Nun… was sagen Sie?«
Das lag wohl auf der Hand. Nein natürlich. Die ganze Idee war völlig hirnrissig.
«Fünfundzwanzigtausend Dollar, haben Sie gesagt?«
«Barbei Ablieferung.«
Es war ein Vermögen. Damit würde Tracy versorgt sein, bis sie sich reiflich überlegt hatte, was sie aus ihrem Leben machen sollte. Sie dachte an das trostlose Appartment, in dem sie wohnte, an die schreienden Nachbarn, an die hysterische Frau, die sich nicht von einer Mörderin hattebedienen lassen wollen, an den Geschäftsführer, der sagte:»Dann müssen wir eben die Polizei holen…«
Aber Tracy konnte sich immer noch nicht zu einem Ja überwinden.
«Ich würde vorschlagen, daß Sie die Sache am Samstagabend über dieBühnebringen«, sagte Conrad Morgan.»Das Personal geht am Samstag schon um 12 Uhr mittags aus dem Haus. Ich werde einen getürkten Führerschein für Siebesorgen. Und Sie mieten hier in Manhattan einen Wagen und fahren nach Long Island. Dort treffen Sie gegen 23 Uhr ein. Sie nehmen die Juwelen an sich, fahren wieder nach New York und geben den Wagen zurück… Sie können doch Auto fahren, oder?«
«Ja.«
«Hervorragend. Um 7 Uhr 45 fährt ein Zug nach St. Louis. Ich werde ein Abteil für Sie reservieren lassen. Ich hole Sie in St. Louis amBahnhof ab, Sie geben mir die Juwelen, und ich gebe Ihnen die fünfundzwanzigtausend Dollar.«
Es hörte sich alles so einfach an.
Dies war der rechte Moment, nein zu sagen, aufzustehen und zu gehen. Aber wohin?
«Ich werde eineblonde Perückebrauchen«, sagte Tracy.
Als Tracy sich verabschiedet hatte, saß Conrad Morgan in seinemBüro und dachte über sie nach. Eine schöne Frau. Sehr schön sogar. Ja, er wußte schon, es war eine Schande. Vielleicht hätte er ihr sagen sollen, daß er über die Alarmanlage in diesem Haus doch nicht so gutBescheid wußte.
16
Von den tausend Dollar Vorschuß, die Conrad Morgan ihr gegeben hatte, kaufte sich Tracy zwei Perücken — eineblonde und eine schwarze mit vielen kleinen Zöpfen. Sie erstand außerdem einen dunkelblauen Hosenanzug, einen schwarzen Overall und einen Handkoffer. Wie Morgan angekündigt hatte, erhielt sie ein Kuvert mit einem Führerschein, der auf den Namen EllenBranch ausgestellt war, einen Plan der Alarmanlage im HauseBellamy, die Kombination des Safes im Schlafzimmer und eine Amtrak‑Fahrkarte nach St. Louis. Tracy packte ihre paar Habseligkeiten und verließ das trostlose Appartment. In einem solchen Loch werde ich nie mehr wohnen, schwor sie sich. Sie mietete einen Wagen und machte sich auf den Weg nach Long Island. Sie fuhr einem Einbruchdiebstahl entgegen.
Es schien ihr so unwirklich wie ein Traum. Sie hatte schreckliche Angst. Was war, wenn sie erwischt wurde? War die Sache das Risiko wert?
Es ist lächerlich einfach, hatte Conrad Morgan gesagt.