Er würde die Finger von diesen Dingen lassen, wenn er nicht sicher wäre, daß nichts schiefgehen kann. Er hat einen guten Namen zu verteidigen. Ich habe auch einen Namen, dachte Tracy erbittert, aber leider nur einen miserablen. Wann immer ein Schmuckstück fehlt, werde ich die Diebin sein, bis meine Unschuld zweifelsfrei erwiesen ist.
Tracy wußte, was sie tat: Sie versuchte, sich in eine große Wut hineinzusteigern, bis sie fähig war, ein Verbrechen zubegehen. Es funktionierte nicht. Als sie in Sea Cliff anlangte, war sie nur noch ein Nervenbündel. Zweimal kam sie um Haaresbreite mit dem Wagen von der Straße ab. Vielleicht hält
mich die Polizei wegen grobfahrlässigen Fahrens an, dachte Tracy hoffnungsvoll. Dann kann ich Mr. Morgan erzählen, daß die Sache schiefgelaufen ist.
Doch es war nirgendwo ein Streifenwagen in Sicht. Klar, dachte Tracy ergrimmt. Wenn man die Leutebraucht, sind sie natürlich nicht da.
Sie hielt sich an Conrad Morgans Weisungen und fuhr in Richtung Long‑Island‑Sund. Das Haus steht direkt am Meer. Es ist eine alte viktorianische Villa. Sie können es nicht verfehlen.
O daß ich es nur verfehlen würde, betete Tracy.
Doch da stand es schon, ragte in der Dunkelheit auf wie dieBurg eines menschenfressenden Ungeheuers in einem Alptraum. Es sah verlassen aus. Wie können die Dienstboten es wagen, übers Wochenende einfach frei zu nehmen, dachte Tracy empört. Man sollte sie alle entlassen.
Sie lenkte den Wagen hinter eine Reihe von riesigen Weiden, wo man ihn nicht sehen konnte, stellte den Motor abund lauschte dem Gezirpe der Insekten. Sonst war alles still. Das Haus lag ein Stück von der Straße entfernt, und zu dieser späten Stunde war die Straße wie ausgestorben.
Das Anwesen wird vonBäumen abgeschirmt, mein liebes Kind, der nächste Nachbar wohnt ein paar hundert Meter entfernt, also keineBange: Sie können nicht gesehen werden. Der Wachdienst kommt um 22 Uhr und dann noch einmal um zwei. Aberbis dahin sind Sie schon längst wieder fort.
Tracyblickte auf ihre Uhr. Es war elf. Der Wachdienst hattebereits seine erste Runde gemacht. Ihrblieben drei Stundenbis zur zweiten. Oder drei Sekunden, um zu wenden, nach New York zurückzufahren und diesen ganzenBlödsinn zu vergessen. Doch was dann? Bilder tauchten vor ihr auf. Der Abteilungsleiterbei Saks:»Es tut mir furchtbar leid, Miß Whitney, aber wir müssen Rücksicht auf unsere Kundschaft nehmen…«
«Computerjobs… also, das können Sie vergessen. Die stellen niemand an, der vorbestraft ist…«
«Fünfundzwanzigtausend Dollar… steuerfrei natürlich.
Falls SieBedenken haben — Mrs. Bellamy ist eine ziemlich entsetzliche Frau.«
Was mache ich da! dachte Tracy. Ichbin doch keine Einbrecherin. Keine richtige, meine ich. Ichbin eineblutige Dilettantin, die kurz vor dem Nervenzusammenbruch steht.
Wenn ich auch nur einen Funken Verstand hätte, würde ich verduften, solang es noch geht. Bevor mich die Wachleute stellen und das Feuer eröffnen und mein von Kugeln durchsiebter Körper ins Leichenschauhaus geschafft wird. Ich kann die Schlagzeile schon vor mir sehen: GEFÄHRLICHE KRIMINELLEBEI EINBRUCHSVERSUCH GETÖTET.
Wer würde zur ihrerBeerdigung kommen und weinen? Ernestine und Amy. Tracyblickte wieder auf ihre Uhr.»Ach, du meine Güte. «Sie hatte zwanzig Minuten lang träumend im Wagen gesessen. Wenn ich's wirklich machen will, sollte ich allmählich anfangen.
Doch sie konnte sich nichtbewegen, war starr vor Furcht. Ich kann hier nicht ewig sitzenbleiben, sagte sie sich. Aber ich könnte mal einenBlick auf das Haus werfen. Kurz und unverbindlich.
Tracy holte tief Luft und stieg aus dem Wagen. Sie trug den schwarzen Overall. Ihre Knie zitterten. Langsam näherte sie sich dem Haus. Es war stockdunkel.
Tragen Sie unbedingt Handschuhe.
Tracy langte in ihre Tasche, zog die Handschuhe heraus und streifte sie über. O Gott, ich mach's, dachte sie. Ich mache es wirklich. Ihr Herz klopfte so laut, daß sie sonst nichts mehr hörte.
Die Alarmanlagebefindet sich links von der Haustür. Sie hat fünf Knöpfe. Es wird ein rotes Lämpchenbrennen. Dasbedeutet, daß die Anlage eingeschaltet ist. Der Kode zum
Abstellen ist drei‑zwei‑vier‑eins‑eins. Wenn das rote Lämpchen ausgeht, wissen Sie, daß die Anlage abgeschaltet ist. Hier haben Sie den Schlüssel zur Haustür. Wenn Sie drinnen sind, machen Siebitte die Tür zu. Hier haben Sie eine Taschenlampe. Knipsen Sie keins von den Lichtem im Haus an — es könnte ja sein, daß zufällig jemand vorbeifährt. Das Schlafzimmer ist im ersten Stock, links. Es hat ein großes Panoramafenster. Sie finden den Safe hinter einem Porträt von LoisBellamy. Es ist ein sehr simpler Safe. Sie müssen nur diese Kombination einstellen.
Tracy stand reglos da. Sie zitterte. Beim kleinsten Geräusch würde sie fliehen. Doch es war still. Langsam streckte sie die Hand aus, drückte die Knöpfe, betete, daß es nicht funktionieren würde. Das rote Lämpchen ging aus. Nach dem nächsten Schritt gabes kein Zurück mehr.
Tracy steckte den Schlüssel ins Schloß, und die Tür öffnete sich. Tracy wartete eine Minute, bevor sie ins Haus trat. Jeder Nerv ihres Körpersbebte, als sie im Flur stand und lauschte. Sie scheute sich weiterzugehen. Dann zog sie eine Taschenlampe aus dem Overall, knipste sie an und sah die Treppe. Sie lief darauf zu, stieg die ersten Stufen hinauf. Jetzt wollte sie es nur noch so schnell wie möglich hinter sichbringen und wieder verschwinden.
Der Flur im ersten Stock hatte etwas Unheimliches im tanzenden Licht der Taschenlampe. Die Wände schienen zu pulsieren. Tracyblickte in jeden Raum, an dem sie vorbeikam. Alle waren leer.
Das Schlafzimmerbefand sich am Ende des Flures und hatte ein großes Panoramafenster. Genau wie Morgan gesagt hatte. Ein schönes Zimmer, in gedämpftem Rosa gehalten: ein Himmelbett, eine mit Rosenbemalte Kommode, zwei kleine Sofas, ein Kamin, davor ein kleiner Tisch. Fast hätte ich mit Charles und dem Kind in einem Haus wie diesem gelebt, dachte Tracy.
Sie trat an das Panoramafenster und schaute ins Dunkel hinaus. Undeutlich sah man eineBucht, in derBoote ankerten. Gott, sag mirbitte, warum LoisBellamy in diesem schönen Haus wohnt und warum ich hierbin, um sie zubestehlen.
Na, nun werd nicht gleich philosophisch, ermahnte sich Tracy. Das ist eine einmalige Sache. In ein paar Minuten hast du's hinter dir. Aber nicht, wenn du hier rumstehst und nichts tust.
Sie wandte sich vom Fenster abund ging zu dem Porträt, das ihr Morganbeschrieben hatte. LoisBellamy wirkte hartherzig und arrogant. Stimmt, dachte Tracy. Sie sieht tatsächlich so aus, als wäre sie eine ziemlich entsetzliche Frau. Das Porträt schwang nach außen, und dahinter kam ein kleiner Safe zum Vorschein. Tracy hatte sich die Kombination genau eingeprägt. Dreimal nach rechts drehen, bis 42. Zweimal nach links, bis zehn. Einmal nach rechts, bis 20. Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie die Kombination erstbeim zweiten Versuch einstellen konnte. Es klickte und die Tür ging auf.
Der Safe war voll von dicken Umschlägen und Papieren aller Art, doch die interessierten Tracy nicht. Ganz hinten, auf einen kleinenBord, lag ein Juwelentäschchen aus Sämischleder. Tracy streckte die Hand danach aus und hobes vomBord. In diesem Moment ging die Alarmanlage los, und es war das lauteste Geräusch, das Tracy je gehört hatte. Es schien in allen Winkeln und Ecken des Hauses widerzuhallen — eine Warnung, die in die ganze Welt hinausgebrüllt wurde. Tracy stand da wie vomBlitz getroffen.
Was war verkehrt gelaufen? Hatte Conrad Morgan nicht über die Alarmanlage im SafeBescheid gewußt, die ausgelöst wurde, wenn jemand die Juwelen vomBord nahm?
Sie mußte rasch fort. Tracy steckte das Ledertäschchen in ihren Overall und rannte auf die Treppe zu. Und dann hörte sie über den Lärm der Alarmanlage hinweg ein anderes
Geräusch, das Geräusch sich nähernder Sirenen. Tracy stand in Panik am Treppenabsatz, mit rasendem Herz und trockenem Mund. Sie eilte zu einem Fenster, schobden Vorhang ein wenigbeiseite und lugte nach draußen. Ein Streifenwagen fuhr vor. Nun sprang ein Polizist heraus und lief zur Gartenseite des Hauses. Der andere spurtete zur Vordertür. Es gabkein Entrinnen. Die Alarmanlage schrillte immer noch, und plötzlich hörte es sich so an wie die gräßlichen Klingeln auf den Korridoren des Southern Louisiana Penitentiary for Women.