Tracy holte tief Luft. Sie zwang sich, messerscharf zu denken: Wenn jemand in den Strahl tritt, passiert nichts. Doch in dem Moment, in dem er aus dem Strahl tritt, nehmen die Sensoren den Temperaturunterschied wahr, und der Alarm wird ausgelöst. Er soll losgehen, bevor der Diebden Safe öffnet.
Tracy war zu dem Schluß gelangt, daß hier die Schwachstelle des Systems lag. Sie mußte sich jetzt nur noch etwas einfallen lassen, um den Alarm am Funktionieren zu hindern, nachdem der Safe geöffnet war. Am Morgen um 6 Uhr 30 hatte sie die Lösung gefunden. Der Einbruch war machbar, und Tracy hatte wieder den vertrauten Nervenkitzel gespürt.
Nun setzte sie die Infrarotbrille auf, und alles im Raum erglühte plötzlich in unheimlichem Rot. Vor der Speichertür sah Tracy einen Lichtstrahl, den sie ohne dieBrille nicht wahrgenommen hätte.
«Kriech drunter durch«, befahl sie Jean Louis.»Vorsichtig!«
Diebeiden robbten unter dem Lichtstrahl hindurch und richteten sich auf. Sie standen in einem dunklen Flur, der zum Schlafzimmer des Grafen führte. Tracy knipste die Taschenlampe an und ging voran. Durch die Infrarotbrille sah sie einen weiteren Lichtstrahl über der Schwelle der Schlafzimmertür. Sie sprang schwungvoll darüber. Jean Louis tat es ihr nach.
Tracy leuchtete die Wände an, und da waren die Kunstwerke — eindrucksvoll, ehrfurchtgebietend.
Versprechen Sie mir, den Leonardo mitzubringen, hatte Günther gesagt. Und die Juwelen natürlich auch.
Tracy hängte die Zeichnung ab, drehte sie um und legte sie auf denBoden. Sie löste das Pergament aus dem Rahmen, rollte esbehutsam zusammen und steckte es in ihre Umhängetasche. Bliebnur noch der Safe, der in einer mit Vorhängen abgeteilten Nische am anderen Ende des Schlafzimmers stand.
Tracy zog die Vorhänge auf. Vier Infrarotstrahlen verliefen, einander überkreuzend, durch die ganze Nische. Es war unmöglich, an den Safe heranzukommen, ohne einen der Strahlen zu unterbrechen.
Jean Louis starrtebestürzt das Strahlenkreuz an.»Merde! Das schaffen wir nicht. Sie sind zu niedrig, um drunter durchzukriechen, und zu hoch, um drüberzuspringen.«
«Tu genau das, was ich dir sage«, befahl Tracy. Sie trat hinter Jean Louis und legte die Arme um seinenBauch.»Wir laufen jetzt los. LinkesBein zuerst.«
Gemeinsam machten sie einen Schritt auf die Strahlen zu, dann noch einen.
Jean Louis flüsterte entsetzt:»Wir gehen da ja mitten rein!«
«Genau.«
Siebewegten sich auf den Punkt zu, an dem die Strahlen zusammentrafen. Als sie ihn erreicht hatten, bliebTracy stehen.
«Jetzt hör mir zu, Jean«, sagte sie.»Ich möchte, daß du zum Safe rübergehst.«
«Aber die Strahlen…«
«Keine Sorge. Da passiert schon nichts. «Tracy hoffte inständig, daß sie recht hatte.
Zögernd trat Jean Louis aus den Strahlen. Und es passierte tatsächlich nichts. Erblickte mit furchtsam geweiteten Augen zu Tracy zurück. Sie stand im Zentrum der Strahlen, und ihre Körperwärme hinderte die Sensoren daran, den Alarm auszulösen. Jean Louis eilte zum Safe. Tracy rührte sich nicht. Sie wußte, daß der Alarm in dem Moment losgehen würde, in dem sie sichbewegte.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Jean Louis sein Werkzeug aus dem Rucksack holte. Tracy atmete langsam und tief. Sie verlor das Zeitgefühl. Jean Louis schien seit Ewigkeiten mit dem Safebeschäftigt. Das rechteBein tat Tracy weh. Dannbekam sie einen Wadenkrampf. Siebiß die
Zähne zusammen und wagte es nicht, sich zu rühren.
«Wie langebist du jetzt schon zugange?«flüsterte sie.
«Zehn Minuten. Kann auch eine Viertelstunde sein.«
Es war Tracy, als habe sie ihr ganzes Leben so dagestanden. Nunbekam sie einen Wadenkrampf im linkenBein. Es war so schmerzhaft, daß sie am liebsten geschrien hätte. Aber siebliebreglos im Zentrum der Strahlen stehen. Dann hörte sie ein Klicken. Der Safe war offen.
«Magnifique!«rief Jean Louis.»Das ist ja 'ne richtigeBank! Willst du alles haben?«
«Nur die Juwelen. Die Moneten kriegst du.«
«Merci.«
Tracy hörte, wie Jean Louis den Safe ausräumte. Ein paar Sekunden später näherte er sich ihr.
«Toll!«sagte er.»Aber wie kommen wir hier raus, ohne den Strahl zu unterbrechen?«
«Gar nicht«, antwortete Tracy.
Er starrte sie an.»Was?«
«Stell dich vor mich.«
«Aber…«
«Tu, was ich dir sage.«
Ängstlich trat Jean Louis in den Strahl.
Tracy hielt den Atem an. Die Alarmanlage klingelte immer noch nicht.»Okay. Und jetzt gehen wir ganz langsambis ans Ende dieser Nische.«
«Und dann?«
«Dann rennen wir, so schnell wir können.«
Zentimeter für Zentimeter gingen sie durch die Strahlen auf die Vorhänge zu, wo die Strahlen anfingen. Als siebei den Vorhängen waren, holte Tracy tief Luft.»In Ordnung. Wenn ich jetzt sage, laufen wir los.«
Jean Louis schluckte und nickte. Ein Zittern schüttelte seinen schmächtigen Körper.
«Jetzt!«
Tracy wirbelte herum und raste auf die Schlafzimmertür zu. In dem Moment, in dem sie aus dem Strahl traten, ging der Alarm los. Der Krach war ohrenbetäubend.
Tracy sauste in den Speicher und hastete die Leiter hinauf. Jean Louis folgte ihr. Sie liefen übers Dach, kletterten die mit Efeubewachsene Wand hinunter und rannten auf die Mauer zu, wo die zweite Leiter stand. Sekunden später waren sie auf dem Dach des Kombis und wieder drunten. Tracy klemmte sich hinters Steuer, Jean Louis nahmblitzschnell auf demBeifahrersitz Platz.
Als der Kombi die Straße entlangbrauste, sah Tracy eine dunkle Limousine, die unterBäumen parkte. Die Scheinwerfer erhellten einen Moment lang das Innere des Wagens. Hinterm Lenkrad saß Jeff Stevens. Ihm zur Seite ein großer Dobermann. Tracy lachte schallend auf und warf Jeff eine Kußhand zu. Der Kombi raste weiter.
Aus der Ferne hörte man das Geräusch sich nähernder Polizeisirenen.
26
Biarritz, im äußersten Südwesten Frankreichs an der Atlantikküste gelegen, hat seinen Jahrhundertwende‑Glanz zum größten Teil verloren. Trotzdem strömen nach wie vor in der Hochsaison zwischen Juli und September die Reichen Europas hierher, um wenigstens die Sonne und ihre Erinnerungen anbessere Zeiten zu genießen. Wer kein eigenes Château hat, steigt im luxuriösen Hotel du Palais in der Avenue Imperatrice ab, das früher einmal der Sommersitz Napoleons III. war. Esbefindet sich auf einer Landzunge in geradezu spektakulärer Umgebung: Auf der einen Seite ein Leuchtturm und große, zerklüftete Felsen, die aus dem grauen Meer aufsteigen wie vorgeschichtliche Ungeheuer, auf der anderen Seite die hölzerne Strandpromenade.
Eines Nachmittags im späten Augustbetrat dieBaroneß Marguerite de Chantilly die Halle des Hotel du Palais. DieBaroneß war eine elegante Erscheinung mit kappenartig anliegendem aschblondem Haar. Sie trug ein grün‑weißes Seidenkleid, das ihrebeneidenswerte Figur auf das vorteilhaftestebetonte.
DieBaroneß ging zum Concierge.»Meinen Schlüssel, bitte«, sagte sie.
«Gewiß doch, Baroneß. «Der Concierge überreichte Tracy den Schlüssel und mehrere Zettel — Mitteilungen von Telefongesprächen.
Als Tracy dem Lift zustrebte, wandte sich einbebrillter, zerknittert aussehender Mann von der Vitrine ab, in der Hermes‑Krawatten und — Halstücher ausgestellt waren, und stieß mit ihr zusammen. Ihre Handtasche fiel zuBoden.
«Oje«, sagte der Mann.»Das tut mir furchtbar leid. «Er hob
die Handtasche auf.»Entschuldigen Siebitte.«
DieBaroneß Marguerite de Chantilly nahm die Handtasche entgegen, nickte dem Mann huldvoll zu und ging weiter.
Ein Liftboy geleitete sie in den Aufzug und ließ sie im dritten Stock aussteigen. Tracy wohnte in der Suite 312, einer Suite mit weitemBlick auf die Stadt und das Meer.