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Blieb Kalchas der Seher. Wo war er. Unterwegs gestorben? Nein. Getötet worden?

Auch das nicht. Also von den Griechen als Geisel behalten. Dies möge das Volk glauben, glaubte es eine Zeitlang auch, es konnte nicht schaden, wenn der Griechen übler Ruf sich festigte. Im Palast lief eine andre Botschaft durch die Gänge, die ich mir, als sie mir zugetragen wurde, erbittert, mit geballten Fäusten verbat. Marpessa beharrte: Es sei aber die Wahrheit, im Rat sei sie zur Sprache gekommen. Und, übrigens, auch im Schlafgemach der Königin und des Königs. - Wie: Kalchas zu den Griechen übergelaufen? Unser hochverehrter Seher, der in die innersten Staatsgeheimnisse eingeweiht war, ein Abtrünniger? - Eben das. - Die Nachricht mußte falsch sein. Zornig ging ich zu Hekabe, erleichterte nach Art der Unüberlegten mein Gewissen, zwang die Mutter zu handeln. Marpessa verschwand aus meiner Nähe. Parthena die Amme erschien mit verweinten vorwurfsvollen Augen. Ein Ring des Schweigens legte sich um mich. Der Palast, der heimatlichste Ort, zog sich von mir zurück, die geliebten Innenhöfe verstummten mir. Ich war mit meinem Recht allein.

Ein erster Kreislauf.

Aineias war es - er, dem ich immer glaubte, weil die Götter es versäumten, ihm die Fähigkeit zu lügen mitzugeben -, Aineias war es, der mir alles, Wort für Wort, bestätigte: Ja. Kalchas der Seher war auf eignen Wunsch bei den Griechen geblieben.

Er hatte es zuverlässig von Anchises, seinem Vater, dem um Jahre Gealterten.

Kalchas der Seher fürchtete — so trostlos banal waren die Gründe für weittragende Entscheidungen! -, nach dem Fehlschlag des ZWEITEN SCHIFFES werde man ihn in Troia zur Verantwortung ziehn für seine günstigen Prophezeiungen vor seinem Auslaufen. Wobei das Kuriose war, hatte Anchises dem Aineias gesagt: Das Königshaus hat ihm die günstigen Prophezeiungen abgezwungen. Seherlos.

Und ich hatte von Anfang an gewußt, daß Marpessa die Wahrheit sprach. Und ich, hörte ich mich zu Aineias sagen, ich habe es von Anfang an gewußt. Die Stimme, die das sagte, war mir fremd, und natürlich weiß ich heute, weiß ich seit langem, es war kein Zufall, daß diese fremde Stimme, die mir oft schon in der Kehle gesteckt hatte, in seiner Gegenwart zum erstenmal aus mir sprach. Willentlich ließ ich sie frei, damit sie mich nicht zerrisse; was dann kam, hatte ich nicht in der Hand. Ich hab es gewußt, ich hab es gewußt, immer mit dieser fremden hohen wimmernden Stimme, vor der ich mich in Sicherheit bringen mußte, mich an Aineias anklammern, der erschrocken war, aber standhielt. Standhielt, ach Aineias. Schlotternd, gliederschüttelnd hing ich an ihm, jeder meiner Finger tat, was er wollte, klammerte sich in seine Kleider, riß an ihnen; mein Mund, außer daß er den Schrei hervorstieß, erzeugte diese Art von Schaum, der sich auf Lippen und Kinn absetzte, und meine Beine, die ich so wenig in der Gewalt hatte wie irgendein andres Glied, zuckten und tanzten in einer anrüchigen unpassenden Lust, die ich gar nicht empfand, unbeherrscht waren sie, war alles an mir, unbeherrschbar ich.

Vier Männer konnten mich kaum halten.

In die Umnachtung, in die ich endlich fiel, flog mir ein Fünkchen Triumph voraus, merkwürdigerweise - merkwürdig für den, der die listigen Bündnisse zwischen unseren unterdrückten Äußerungen und den Krankheiten nicht kennt. Dies also war der Anfall, und mein Leben teilte sich dann eine Weile in die Zeit vor dem Anfall und die Zeit nach dem Anfall - eine Zeitrechnung, die bald ungültig wurde wie fast alle späteren. Wochenlang konnte ich nicht aufstehn, kein Glied rühren. Wollte es nicht können. Marpessa soll kommen, das war der erste Befehl, den ich weitergeben konnte. Hekabes Mund über mir sagte: Nein. Da ließ ich mich in die Dunkelheit zurückfallen. Auf irgendeine Weise hatte ich das Steigen und Sinken dieses harten schweren Gebildes, meines Bewußtseins, in der Hand. Unentschieden war, ob ich -

wer: ich? - wieder aufsteigen würde, ich hielt mich in der Schwebe, ein schmerzfreier Zustand. Einmal, als ich auftauchte, war es Marpessas Gesicht, das über mir hing, ihre Hand, die mir die Schläfen mit verdünntem Wein wusch. Das war schmerzlich, denn nun mußte ich bleiben. Marpessa war schmal geworden, und blaß, und schweigsam, wie ich selbst. Ich verlor mein Bewußtsein nicht mehr ganz und gar. Ich ließ mir Hilfe gefallen. Ich wurde, was man gesund nennt. Wie ein Schiffbrüchiger das rettende Festland ersehnte ich das Priesteramt. Ich wollte die Welt nicht, wie sie war, aber hingebungsvoll wollte ich den Göttern dienen, die sie beherrschten: Es war ein Widerspruch in meinem Wunsch. Ich gönnte mir Zeit, ehe ich ihn bemerkte, immer habe ich mir diese Zeiten von Teilblindheit gegönnt. Auf einmal sehend werden - das hätte mich zerstört.

Marpessa zum Beispiel habe ich erst auf der Überfahrt hierher, in jener dunklen Sturmnacht, als alles zu Ende ging, fragen können, was sie damals mit ihr gemacht haben. Nichts Besondres, sagte sie. Sie haben mich in die Ställe geschickt. In die Ställe! Ja. Als Pferdemagd zu den Knechten aus einem Dutzend Völkerschaften.

Jedermann kannte die Zustände in den Ställen. Ich habe es mir denken können, warum Marpessa keinen Mann mehr an sich heranließ. Daß ich ihr meine Zwillinge übergab -

eine Art Sühneopfer, das ihre Hingabe an mich nicht steigern, ihre Unversöhnlichkeit nicht mildern konnte. Immer hat sie mich fühlen lassen, daß ich nichts an ihr gutmachen konnte. Daß sie mich verstand, machte es schlimmer. Der Palastschreiber und die junge Sklavin, die Hekabe bediente, von denen Marpessa die Wahrheit über Kalchas den Seher erfahren hatte, waren mit dem nächsten Gefangenentransport abgegangen, den König Priamos dem Hethiterkönig schickte. Niemand sprach den Namen des Kalchas noch aus, nicht im Guten und nicht im Bösen.

Wie oft habe ich erfahren, daß heiß begehrte Gaben mir dann zufielen, wenn ich sie nicht mehr begehrte. Marpessa hat ihrer Zärtlichkeit für mich freien Lauf gelassen, seit ich unter ihren Augen von diesem Aias, den die Griechen Klein Aias nennen, vergewaltigt wurde; wenn ich recht gehört habe, hat sie gerufen: Nimm mich. Doch begreift sie genau, daß ich mich um keines Menschen Liebe oder Freundschaft mehr bewerbe. Nein.

Daß man Unvereinbares nicht zusammenzwingen soll, darüber hat Hekabe mich früh belehrt, vergebens natürlich. Dein Vater, hat sie mir gesagt, will alles. Und alles gleichzeitig. Die Griechen sollen dafür zahlen, daß sie ihre Waren durch unsern Hellespont befördern dürfen: richtig.

Sie sollen König Priamos dafür achten: falsch. Daß sie über ihn lachen, wenn sie sich überlegen glauben - was kränkt es ihn. Solin sie lachen, wenn sie zahlen. Und du, Kassandra, sagte Hekabe zu mir, du sieh zu, daß du nicht zu tief in deines Vaters Seele kriechst.

Ich bin sehr müde. Einen zusammenhängenden Schlaf habe ich seit Wochen nicht gehabt. Unglaubhaft, aber ich könnt jetzt einschlafen. Kann ja nichts mehr verschieben, auch den Schlaf nicht. Ungut, übermüdet in den Tod zu gehn. Daß die Toten schlafen, das sagt man so, wahr ist es ja nicht. Ihre Augen stehn offen. Die aufgerissenen Augen der toten Brüder, die ich schloß, bei Troilos angefangen. Die Augen der Penthesilea, die Achill anstarrten, Achill das Vieh, darüber muß er verrückt geworden sein. Des Vaters offene tote Augen. Der Schwester Augen, Polyxenas, sah ich nicht im Tod. Als sie sie wegschleppten zum Grab des Achill, hatte sie den Blick, den sonst nur Tote haben. Daß Aineias' Augen nicht den Tod, daß sie Schlaf finden werden in vielen Nächten, die kommen werden - ist es ein Trost? Kein Trost. Ein Wissen. Ich habe nur noch Wörter ungefärbt von Hoffnung oder Furcht.