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Vorhin, als die Königin aus dem Tor trat, ließ ich eine letzte sehr kleine Hoffnung in mir aufkommen, ich könnte ihr das Leben der Kinder abgewinnen. Ich hab ihr dann bloß in die Augen sehn müssen: Die tat, was sie mußte. Sie hat die Dinge nicht gemacht. Sie stellt sich auf den Stand der Dinge ein. Entweder sie entledigt sich des Mannes, dieses Hohlkopfs, gründlich, oder sie gibt sich auf: ihr Leben, ihre Regentschaft, den Geliebten, der übrigens, wenn ich mir die Figur im Hintergrunde richtig deute, gleichfalls ein selbstverliebter Hohlkopf ist, nur jünger, schöner, glattes Fleisch. Durch ein Schulterzucken gab sie mir zu verstehn, daß, was geschah, nicht mir persönlich galt. Nichts hätte zu ändern Zeiten uns hindern können, uns Schwester zu nennen, das las ich der Gegnerin vom Gesicht ab, in dem Agamemnon, der Trottel, Liebe und Ergebenheit und Wiedersehensfreude sehen sollte und auch sah. Worauf er den roten Teppich hinaufstolperte wie der Ochs ins Schlachthaus, wir dachten es beide, und in den Mundwinkeln der Klytaimnestra erschien das gleiche Lächeln wie in den meinen. Nicht grausam. Schmerzlich. Daß das Schicksal uns nicht auf die gleiche Seite gestellt hat. Ich trau's der ändern zu, daß sie weiß: Auch sie wird von jener Blindheit befallen, die an Macht gekoppelt ist. Auch sie wird die Zeichen übersehen. Auch ihr Haus wird untergehn.

Das hab ich lange nicht begriffen: daß nicht alle sehen konnten, was ich sah. Daß sie die nackte bedeutungslose Gestalt der Ereignisse nicht wahrnahmen. Ich dachte, sie hielten mich zum Narren. Aber sie glaubten sich ja. Das muß einen Sinn haben.

Wenn wir Ameisen wären: Das ganze blinde Volk stürzt sich in den Graben, ertränkt sich, bildet die Brücke für die wenigen Überlebenden, die der Kern des neuen Volkes sind. Ameisengleich gehn wir in jedes Feuer. Jedes Wasser. Jeden Strom von Blut.

Nur um nicht sehn zu müssen. Was denn? Uns.

Als hätt ich einem Schiff, das ruhig lag, die Kette gelöst, unaufhaltsam schwimmt es im Strom, weiter hinunter, zurück. Als ich ein Kind war. Als ich ein Kind war, hatte ich einen Bruder namens Aisakos, den liebte ich über alles, und er mich. Mehr als mich liebte er nur seine junge schöne Frau Asterope, und als die im Kindbett starb, konnte auch er nicht mehr leben und sprang von den Klippen ins Meer, wurde aber ein übers andre Mal von seinen Bewachern gerettet. Bis er doch einmal unterging, nicht gefunden wurde, bis an der Stelle, in der er ins Meer eingetaucht war, ein schwarzer Tauchvogel mit rotem Hals auftauchte, in dem der Orakeldeuter Kalchas die verwandelte Gestalt des Aisakos erkannte und den man sofort unter den Schutz der Allgemeinheit stellte. Ich allein - wie könnt ich es vergessen : Das war das erstemal! - ich allein wand mich tage- und nächtelang schreiend, in Krämpfen auf meinem Lager. Selbst wenn ich es hätte glauben können, aber ich glaubte es nicht, daß mein Bruder Aisakos ein Vogel war; daß die Göttin Artemis, der man Seltsamkeiten zutraute, ihm, indem sie ihn verwandelte, seine innigste Sehnsucht erfüllt habe: Ich wollte keinen Vogel anstelle meines Bruders. Ich wollte ihn, Aisakos, den kräftigen, warmhäutigen Mann mit dem braunen Kraushaar, der anders als alle meine Brüder im Palast zu mir war; der mich auf den Schultern nicht nur durch alle Höfe, auch durch die Gassen der Stadt trug, die um die Zitadelle gebaut war, die jetzt zerstört ist wie sie und in der alle die Leute, die jetzt tot oder gefangen sind, ihn grüßten. Der mich »meine arme kleine Schwester« nannte und mich mit hinausnahm ins freie Gelände, wo der Seewind durch die Olivenbäume strich, die Blätter silbern aufblitzen ließ, so daß der Anblick mir weh tat; der mich schließlich mitnahm in jenes Dorf am Abhang des Ida-Berges, wo er zu Hause war, denn sein Vater war zwar Priamos, aber seine Mutter war Arisbe, die mir damals uralt vorkam, auch unheimlich, und deren weiße Augen ich aus dem Dunkel eines kleinen, mit Krautern behängten Raumes hervorblitzen sah, während Asterope, des Aisakos junge schlanke Frau, ihren Mann mit einem Lächeln begrüßte, das mir ins Fleisch schnitt. Ihn wollte ich wiederhaben, mit Haut und Haar, schrie ich, ihn ihn ihn ihn. Aisakos. Und nie wollte ich, aber das dachte ich nur, ein Kind.

Ja: Damals war es, als ich zum erstenmal hörte: Sie ist von Sinnen. Hekabe die Mutter hat mit Armen, in denen Männerkraft steckte, meine zuckenden bebenden Schultern gegen die Wand gedrückt - immer das Zucken meiner Glieder, immer die kalte harte Wand gegen sie, Leben gegen Tod, die Kraft der Mutter gegen meine Ohnmacht; immer eine Sklavin, die meinen Kopf festhielt, und immer der braune bittere Saft, den Parthena die Amme mir einflößte; immer der schwere Schlaf und die Träume. Jenes Kind der Asterope und des Aisakos, das mit seiner Mutter zusammen bei der Geburt gestorben war, wuchs in mir. Als es reif war, wollte ich es nicht zur Welt bringen, da spie ich es aus, und es war eine Kröte. Vor der ekelte ich mich.

Merops, der uralte Traumdeuter, hörte mich aufmerksam an. Dann empfahl er der Hekabe, aus der Nähe dieser Tochter alle Männer zu entfernen, die Aisakos ähnlich sähen. Wie er sich das vorstellte, soll Hekabe den Alten zornig gefragt haben. Der zuckte die Achseln und ging. Priamos setzte sich an mein Lager und besprach mit mir in allem Ernst Staatsgeschäfte. Schade sei es, jammerschade, daß nicht ich, an seiner Stelle und in seinen Kleidern, am Morgen auf dem hochlehnigen Stuhl im Rat sitzen könne. Ich liebte den Vater noch mehr als sonst, wenn er sich um mich sorgte. Daß er Schwierigkeiten persönlich nahm, wußte jeder im Palast, ich nahm es als Stärke, alle anderen als Schwäche. Da wurde es zur Schwäche.

Rasend schnell die Abfolge der Bilder in meinem müden Kopf, die Worte können sie nicht einholen. Merkwürdige Ähnlichkeit der Spuren, welche verschiedenste Erinnerungen in meinem Gedächtnis vorfinden. Immer leuchten diese Gestalten auf, wie Signale. Priamos, Aisakos, Aineias, Paris. Ja. Paris. Paris und das Unternehmen DRITTES SCHIFF, das mir in allen seinen Voraussetzungen und Folgen klar vor Augen steht, während ich mich damals in undurchschaubarer Wirrnis beinah verlor. Das DRITTE SCHIFF. Es kam vor, vielleicht, weil ich mich zu der Zeit, da es ausgerüstet wurde, gerade auf die Weihe zur Priesterin vorbereitete, daß ich mich mit diesem Schiff gleichsetzte, daß ich insgeheim mein Schicksal mit dem seinen verband. Was hätte ich darum gegeben, mit ihm hinauszufahren. Nicht nur, weil ich wußte: Diesmal würde Aineias seinen Vater Anchises auf der Fahrt begleiten; nicht nur, weil das Ziel der Expedition, wenn man es scharf ins Auge fassen wollte, immer wieder verschwamm und genug Platz für wunderbare Erwartungen ließ - nein: aufgewühlt und zum Äußersten bereit war ich durch die allmähliche, mühsame Enthüllung heikelster Punkte aus der Geschichte unsres Hauses, durch das unvermutete Auftauchen eines verlorenen ungekannten Bruders. Sehr nah, wieder einmal allzu nah ging mir der fremde junge Mann, der da urplötzlich an den Gedächtnisspielen für einen früh verstorbenen namenlosen Bruder teilnahm; ich mußte ihn nicht kennen, um bei seinem Anblick zu zittern, unerträglich brannte mich seine Schönheit, ich schloß die Augen, um ihr nicht länger ausgesetzt zu sein. Er sollte alle Kämpfe gewinnen! Er gewann alle: den Faustkampf, den ersten Lauf, dann den zweiten, zu dem meine neidischen Brüder ihn mehr gezwungen als gebeten hatten. Diesen Kranz setzte ich ihm auf, man hatte es mir nicht abschlagen können. Mein ganzes Wesen kam ihm entgegen. Er bemerkte es nicht. Sein Gesicht schien mir verschleiert, so als sei nur sein Körper anwesend und ihm zu Willen, nicht aber sein Geist. Er war seiner selbst nicht inne. So blieb es, wenn ich es recht bedenke, ja, so blieb es. Doch ist diese Selbstfremdheit eines Prinzen der Schlüssel zu einem großen Krieg? Sie werden es so auslegen, fürchte ich. Sie brauchen diese persönlichen Gründe.