Da ich mitten im Stadion war, mußte ich mir erzählen lassen, was inzwischen draußen geschah: die Abriegelung aller Ausgänge durch die Wachsoldaten des Königshauses - zum erstenmal hörte man, ein junger Offizier namens Eumelos habe sich dabei durch Umsicht und Konsequenz hervorgetan -, strenge Kontrollen.
Drinnen, in meiner Nähe, ich sah es: Hektor und Deiphobos, meine beiden ältesten Brüder, drangen mit gezücktem Schwert auf den eher erstaunten als erschrockenen Fremdling ein. Begriff er wirklich nicht, daß die Reihenfolge der Sieger bei den Spielen festlag; daß er ein Gesetz verletzt hatte? Er begriff es nicht.
Dann, über dem drohend anschwellenden Summen des Stadions die durchdringende Stimme: Priamos! Dieser da ist dein Sohn. Und ich, warum nur, wußte im gleichen Augenblick: Das war die Wahrheit. Erst dann des Vaters Handbewegung, die die Schwerter der Brüder lahmte. Das Kopfnicken der starren Mutter, nachdem der alte Hirte ihr ein Windelband gezeigt hatte. Und des Fremdlings bescheidene Antwort auf die Frage des Königs nach seinem Namen: Paris. -
Unterdrücktes Gelächter der Geschwister: Tasche, Beutel hieß dieser neue Bruder. Ja, sagte der alte Hirte, die Tasche, in der er ihn, den Sohn des Königs und der Königin, als einen Winzling im Gebirge herumgetragen hatte. Er wies die Tasche vor, sie war so alt wie er selbst, wenn nicht älter. Dann, in einem jener jähen Umschläge, die für unsre öffentlichen Ereignisse bezeichnend sind (waren), der Triumphzug zum Palast, Paris in dessen Mitte. Halt. Glich dieser Zug nicht jenem ändern, in dessen Mitte der weiße Opferknabe. Ich, wieder einmal stumm in der aufgeregt schnatternden Schar der Schwestern, weh und wund, aufgerissen.
Ich hatte so eine Gier, diesmal, weil es um Paris ging, wollt ich alles herausfinden.
Sagte auch so etwas, glaub ich. Peinlicherweise. Nun. Später hab ich nicht mehr geglaubt, daß die Ereignisse es mir schuldig seien, sich zu offenbaren. In diesen frühen Jahren lief ich ihnen nach. Stillschweigend voraussetzend, vor mir, als der Tochter des Königs Priamos, würden alle Türen und alle Münder aufspringen. Wohin ich kam, gab es dann keine Türen, nur Felle vor höhlenartigen Behausungen. Auch war mir meine angelernte Höflichkeit im Wege, die drei Hebammen, die den Paris, überhaupt fast alle Kinder der Hekabe aus dem Mutterschoß gezogen hatten - uralte, zottelige Weiber -, dringlich zu befragen. Ohne Marpessa, die mich führte, ohne meine Scham vor ihr war ich umgekehrt. Zum erstenmal sah ich die Wohnhöhlen am Steilufer unsres Flusses Skamandros aus der Nähe, das gemischte Volk, das vor den Eingängen lagerte, die Ufer sprenkelte, im Fluß seine Wäsche wusch, unerfindlich, wovon es lebte; durch das ich wie durch eine Schneise des Schweigens ging, nicht bedrohlich, nur eben fremd, während Marpessa nach allen Seiten grüßte, von überall her Zurufe empfing, obszöne Männerwörter dabei, auf die sie in der Zitadelle scharf erwidert hätte, die sie hier lachend zurückgab. Kann die Tochter des Königs eine Sklavin beneiden? Ja wirklich, das waren so Fragen. Daß ich sie noch weiß. Das Schönste an Marpessa, sah ich, war ihr Gang, kräftig aus der Hüfte heraus bewegte sie die Beine, den Rücken gerade aufgerichtet, mühelos. Ihr dunkles Haar in zwei Zöpfen hochgesteckt. Sie kannte auch das Mädchen, das die drei uralten Mütter betreute.
Oinone, ein ganz junges Geschöpf von auffallendem Liebreiz, selbst für diese Gegend, die für die Schönheit ihrer Frauen berühmt war; »am Skamandros«, das war eine Formel unter den jungen Männern im Palast, wenn es Zeit für ihr erstes Mädchen war, ich hatte es bei den Brüdern aufgeschnappt.
Stolz nannte ich den drei Hebammen meinen richtigen Namen, Marpessa hatte mir davon abgeraten. Wie. Mich sollten die drei Alten zum Narren halten! O die drei alten Vetteln. Einen Sohn des Priamos? Ha. Dutzende davon hätten sie auf die Welt gebracht. Neunzehn, berichtigte ich, damals hielt ich noch auf Familienehre. Die Zahl bestritten die Alten, stritten auch untereinander. Aber sie können nicht zählen, versicherte lachend Oinone. Oinone, Oinone, den Namen hörte ich doch nicht zum erstenmal? Wer sprach ihn sonst aus. Eine Männerstimme. Paris. - War ich ihr nicht schon im Palast begegnet? Immer wenn ich aus dem Weichbild der Zitadelle kam, geriet ich in diese undurchsichtigen, oft genug kränkenden Verhältnisse. Schroffer als nötig fragte ich die Mütter, warum nach ihrer Meinung einer, ein ganz bestimmter unter den Dutzenden von Söhnen des Priamos nicht habe aufgezogen werden sollen.
Nicht aufgezogen? Das Wort selbst schienen die drei alten Heuchlerinnen nicht zu kennen. O nein, gewiß nicht. Das habe es zu ihrer Zeit nicht gegeben. Nicht daß sie wüßten. Bis eine, fast träumerisch, verlauten ließ: Ja, wenn Aisakos lebte! Aisakos?
Blitzschnell stieß ich nach. Dreifaches Schweigen. Auch Oinone schwieg. Marpessa schwieg. Sie war, was denk ich da. Ist! - in meinem Leben die Schweigsamste.
Auch der Palast. Ein Palast des Schweigens. Hekabe, ihren Zorn unterdrückend, schwieg. Parthena die Amme, ihre Angst offen zeigend, schwieg. Ich lernte, indem ich die Arten zu schweigen beobachtete. Viel später erst lernte ich selbst das Schweigen, welch nützliche Waffe. Das eine Wort, das ich kannte, drehte und wendete ich: Aisakos, bis plötzlich eines Nachts ein zweiter Name aus ihm herausfieclass="underline" Arisbe. War sie nicht des Aisakos Mutter gewesen. Ob es sie noch gab?
Zum erstenmal erfuhr ich, was ich dann oft erprobte, daß die Vergessenen voneinander wissen. Ich traf, nicht ganz zufällig, die kluge Briseis, die Tochter des abtrünnigen Sehers Kalchas, der in Windeseile unter die Vergessenen gefallen war, auf dem großen Herbstmarkt vor den Toren Troias, auf dem der Ost-West-Handel blühte; und stellte ihr die törichte Frage, ob sie mich noch kenne. Wer kannte mich nicht. Briseis hatte ihre besonders leuchtenden Webwaren ausgelegt. Sie, die schon früher überaus eigenwillig, auch leidenschaftlich gewesen war, ließ die Käufer stehn, um mir bereitwillig und unpersönlich zu beschreiben, wo ich Arisbe fand: auf dem gleichen Markt nämlich, in der Töpferzeile. Ich ging, fragte niemand, sah in die Gesichter: Arisbe sah aus wie ein älterer Aisakos. Kaum daß ich ihr nahekam, murmelte sie, ich solle sie in ihrer Hütte besuchen, da und da, am Fuße des Ida-Bergs.
Also war sie unterrichtet, daß ich kam. Also tat ich keinen unbeobachteten Schritt.
Dabei fielen mir die Wächter des Priamos, die mir folgten, nicht einmal auf, ich war ein dummes junges Ding. Als einer sie mir zum erstenmal zeigte - Panthoos der Grieche natürlich -, spielte ich mich auf, lief zum Vater, stieß auf den König, die Maske. Bewacher? Wie ich darauf komme. Beschützer seien die jungen Burschen. Ob ich sie brauche, das müsse schon er entscheiden, nicht ich. Wer nichts zu verbergen habe, brauche das Auge des Königs nicht zu scheun.
Zu Arisbe ging ich allein, soviel ich weiß.
Wieder im Umkreis der Stadt diese Neben-, ja Gegenwelt, die, anders als die steinerne Palast- und Stadtwelt, pflanzenhaft wuchs und wucherte, üppig, unbekümmert, so als brauchte sie den Palast nicht, so als lebte sie von ihm abgewandt, also auch von mir. Man kannte mich, grüßte mich gleichmütig, ich aber grüßte eine Spur zu eilfertig zurück. Demütigend war es mir, dorthin um Auskünfte zu gehn, die der Palast mir verweigerte. »Verweigerte« habe ich lange gedacht, bis ich begriff, daß sie nicht verweigern konnten, was sie nicht hatten. Daß sie die Fragen nicht einmal verstanden, auf die ich Antwort suchte und die, mehr und mehr, meinen innigen Zusammenhang mit dem Palast, mit meinen Leuten zerstörten. Ich merkte es zu spät.
Das fremde Wesen, das wissen wollte, hatte sich schon zu weit in mich hineingefressen, ich konnte es nicht mehr loswerden.
Arisbes Hütte, wie armselig, wie klein. Hier hatte der große starke Aisakos gelebt?
Die würzigen Düfte, die Kräuterbündel an Decke und Wänden, über dem offenen Feuer in der Mitte ein dampfender Sud. Die Flamme flackerte und rauchte, sonst herrschte Dunkelheit. Arisbe weder freundlich noch unfreundlich, ich aber war Freundlichkeit gewöhnt und brauchte sie noch. Ohne zu zögern gab sie mir die Auskünfte, nach denen ich verlangte. Ja: Aisakos sei es gewesen, mein Halbbruder, der gottbegnadete Seher, der vor der Geburt jenes Knaben, den sie jetzt Paris nannten, verkündete: Auf diesem Kind liege ein Fluch. Aisakos! Derselbe harmlose Aisakos, auf dessen Schultern ich geritten war? Arisbe, ungerührt: Aber ausschlaggebend sei natürlich der Traum der Hekabe gewesen. Die nämlich hatte, wenn ich Arisbe glauben konnte, kurz vor der Geburt des Paris geträumt, sie gebäre ein Holzscheit, aus dem unzählige brennende Schlangen hervorkrochen. Dies hieß nach der Deutung des Sehers Kalchas: Das Kind, das Hekabe gebären sollte, werde ganz Troia in Brand stecken.