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Unerhörte Nachrichten. Wo lebte ich denn.

Arisbe, das massige Weib am Feuer, im stinkenden Topf rührend, fuhr fort mit ihrer Trompetenstimme: Allerdings sei des Kalchas Deutung nicht unwidersprochen geblieben. Auch ihr selbst sei dieser Traum der schwangeren Königin unterbreitet worden. Von wem! warf ich hastig ein, und sie erwiderte flüchtig: Von Hekabe. Sie habe ihm nach reiflichem Überlegen eine andre Wendung geben können. Nämlich, fragte ich schroff, ich glaubte selbst zu träumen: Hekabe die Mutter in Angstträumen, die sie unter Umgehung des offiziellen Orakelsprechers der früheren Nebenfrau ihres Mannes, des Königs, unterbreitet - ja waren sie alle verrückt? Oder vertauscht, wie ich es als Kind so oft gefürchtet hatte? -Nämlich daß dieses Kind, sagte Arisbe, dazu bestimmt sein könnte, die Schlangengöttin als Hüterin des Feuers in jedem Hause wieder in ihre Rechte einzusetzen. Meine Kopfhaut zog sich zusammen, es mußte gefährlich sein, was ich mit anhörte. Arisbe lächelte, da wurde ihre Ähnlichkeit mit Aisakos schmerzhaft. Ob ihre Deutung König Priamos gefallen habe, wisse sie nicht.

Mit diesem Rätselsatz entließ sie mich. Was hat alles geschehen müssen, eh diese Hütte mein wirkliches Heim geworden ist.

Jetzt mußte ich mich doch noch an den Vater wenden. Es war dahin gekommen, daß ich mich melden lassen mußte wie jeder andre. Einer der jungen Leute, die mir seit Wochen nachgestiegen waren, stand jetzt, schweigsam und deutlich, vor Priamos'

Tür. Wie hieß dieser doch? Eumelos? Ja, sagte Priamos, ein fähiger Mann. Er gab sich beschäftigt. Zum erstenmal kam mir der Gedanke, die Vertraulichkeit zwischen uns beruhe, wie so oft zwischen Männern und Frauen darauf, daß ich ihn kannte und er mich nicht. Er kannte sein Wunschbild von mir, das hatte stillzuhalten. In voller Tätigkeit hatte ich ihn immer gern gesehn, unsicher und seine Unsicherheit hinter Geschäftigkeit verbergend nicht. Herausfordernd nannte ich Arisbes Namen. Priamos fuhr auf: Intrigierte seine Tochter gegen ihn? Schon einmal habe es im Palast eine Weiberintrige gegeben, damals vor des Paris Geburt. Die einen hätten ihn beschworen, das gefährliche Kind beiseite zu schaffen, die ändern, natürlich Hekabe dabei, wollten gerade diesen Sohn als zu Höherem auserwählt retten. Zu Höherem!

Also zum Anwärter auf den Thron des Vaters, was denn sonst.

Der Satz zerriß mir ein Gespinst vor den Augen. Endlich begriff ich, was ich als Kind aufgenommen hatte: verschlossene oder verstörte Mienen, ein Ring von Ableh-nung, ja Abscheu um den Vater, den ich bewußt durchbrach: Lieblingstochter! Die Entfremdung von der Mutter, Hekabes Verhärtung. Und nun? Paris lebte. Ja, sagte Priamos. Der Hirte hat es nicht über sich gebracht, ihn zu töten. Ich wette, daß er von den Frauen bestochen war. Gleichviel. Lieber mag Troia fallen, als daß mein wunderbarer Sohn sterben sollte.

Ich war verblüfft. Was plusterte er sich auf? Und wieso sollte Troia fallen, wenn Paris lebte? Und hat der König die Zunge eines Hundes, die ihm der Hirte als Beweisstück gebracht, wirklich nicht von der eines Säuglings unterscheiden können?

Ein aufgeregter Läufer meldete die Ankunft des Menelaos, König von Sparta, sein Schiff war es also gewesen, dessen Annäherung wir seit dem Morgengrauen beobachteten. Hekabe kam herein, in Staatsgeschäften, schien mich nicht zu sehn: Menelaos. Du weißt? Vielleicht gar nicht so übel.

Ich ging. Während der Palast sein Bestes tat, den Gast zu empfangen, der seltsamerweise an zwei unsrer Heroengräber opfern wollte, um die Pest in Sparta zum Stillstand zu bringen; während die Tempel aller Götter Staatszeremonien vorbereiteten, pflegte ich meine verquere Genugtuung. Mit Genugtuung fühlte ich die Kälte, die sich in mir ausbreitete. Ich wußte noch nicht, daß Fühllosigkeit niemals ein Fortschritt ist, kaum eine Hilfe. Wie lange es dauerte, bis meine Gefühle in die verödeten Seelenräume wieder einströmten. Meine Wiedergeburt gab mir nicht nur die Gegenwart zurück, das, was man Leben nennt, sie erschloß mir auch die Vergangenheit neu, unverzerrt durch Kränkung, Zu- und Abneigung und alle die Luxus-Empfindungen der Priamostochter. Wie ich triumphgeschwollen beim Gastmahl saß, an dem Platz in der Reihe der Geschwister, der mir zustand. Jemand, der so getäuscht worden war wie ich, war denen nichts mehr schuldig. Ich hätte, vor allen anderen, ein Anrecht gehabt, zu wissen. Um sie zu strafen, mußte ich in Zukunft mehr wissen als sie. Priesterin werden, um Macht zu gewinnen? Götter. Bis an diesen äußersten Punkt habt ihr mich treiben müssen, um diesen schlichten Satz aus mir herauszupressen. Wie schwer es bis zuletzt die Sätze haben, die mich angreifen. Um wieviel schneller und leichter die Sätze passieren, die auf andre zielen. Arisbe hat es mir einmal klipp und klar gesagt, wann war das doch, Marpessa.

In der Mitte des Kriegs, sagt sie. Lange schon trafen wir uns abends am Hang des Ida-Bergs vor den Höhlen, wir Frauen. Auch die uralten Hebammen lebten immer noch und kicherten mit ihren zahnlosen Mündern, und selbst du hast damals gelächelt, Marpessa, auf meine Kosten. Nur ich lachte nicht. Meine alte Gekränktheit schwoll in mir an, da sagte Arisbe, anstatt ein Gesicht zu ziehn, solle ich heilfroh sein, daß es Leute gebe, die mir unverblümt die Meinung sagten. Welche Tochter aus mächtigem Hause habe schon dies Glück. Schon wahr, sagte ich, laß gut sein. Mehr als alles, glaub ich, liebte ich Arisbes Humor. Unvergeßlicher Anblick, wie sie, mächtiger Körper, auf diesem vermodernden Baumstamm vor der Höhle hockte und mit ihrem Stocke uns den Takt klopfte. Wer würde uns glauben, Marpessa, daß wir mitten im Krieg regelmäßig zusammenkamen, außerhalb der Festung, auf Wegen, die außer uns Eingeweihten niemand kannte; daß wir, weit besser unterrichtet als irgendeine andre Gruppe in Troia, die Lage besprachen, Maßnahmen berieten (auch durchführten), aber auch kochten, aßen, tranken, miteinander lachten, sangen, spielten, lernten. Immer gab es Monate, in denen die Griechen, hinter ihren Uferpalisaden verschanzt, uns nicht angriffen. Sogar der Große Markt vor den Toren Troias konnte abgehalten werden, im Angesicht der griechischen Flotte. Und nicht selten erschien einer ihrer Fürsten -

Menelaos, Agamemnon, Odysseus oder einer der beiden Aiasse - zwischen den Ständen und Buden, begrapschte die Waren, die er oft nicht kannte, und kaufte für sich oder seine Frau Stoffe, Lederwaren, Geschirr und Gewürze. Als Klytaimnestra vorhin auftrat, erkannte ich sie sofort an dem Kleid: Den Stoff zu diesem Kleid trug ein Sklave hinter dem unglückseligen Agamemnon her, als ich ihn auf unserm Markt zum erstenmal sah. Gleich mißfiel mir etwas an der Art seines Auftretens, herrisch drängte er sich an Arisbes Stand nach vorn, schob die Keramiken wählerisch hin und her und zerbrach eine der schönsten Vasen, die er, auf ein Wort von Arisbe, hastig bezahlte, um dann unter dem Gelächter der Zuschauer mit seinem Gefolge zu entfliehn. Er hatte gesehn, daß ich ihn gesehn hatte.

Der rächt sich, sagte ich zu Arisbe, und es beunruhigte mich tief, daß der große und berühmte Flottenführer der Griechen ein Schwächling ohne Selbstbewußtsein war.

Um wieviel besser ist ein starker Feind. Manchmal erhellt ja ein kleiner Zug einen großen Vorgang. Mir war plötzlich klar, daß es stimmen konnte, stimmen mußte, was ein griechischer Überläufer berichtet hatte und was auf Befehl des Priamos nicht weiterverbreitet werden durfte, damit das Volk den Feind nicht für ein Ungeheuer halten sollte: daß dieser selbe Agamemnon seine eigne Tochter, ein junges Mädchen namens Iphigenie, vor der Überfahrt seiner Flotte auf dem Opferaltar der Göttin Artemis schlachten ließ. Wie oft ich all die Kriegsjahre über an diese Iphigenie denken mußte. Das einzige Gespräch, das ich mir mit diesem Mann erlaubte, ging um diese Tochter. Auf dem Schiff war es, am Tag nach der Sturmnacht, ich stand am Heck des Schiffs, er neben mir. Tiefblauer Himmel und die weiße Gischtlinie, die das Schiff im glatten grünblauen Meer hinterließ. Rundheraus fragte ich den Agamemnon nach Iphigenie. Er weinte, aber nicht, wie man aus Trauer weint: aus Angst und Schwäche. Er habe es doch tun müssen. Was, fragte ich kalt, ich wollte, daß er es aussprach. Er wand sich. Er habe sie opfern müssen. Das war nicht, was ich hören wollte, aber Wörter wie »morden«, »schlachten« sind ja den Mördern und Schlächtern unbekannt. Wie weit ich mich, auch in meiner Sprache, von ihnen entfernt hatte. Euer Kalchas, rief Agamemnon anklagend, hat um günstger Winde willen dies Opfer strikt von mir verlangt. Und du hast ihm geglaubt, hab ich gesagt. Ich vielleicht nicht, greinte er. Nein, ich nicht. Die anderen, die Fürsten. Ein jeder neidisch auf mich, den Befehlshaber. Ein jeder schadenfroh. Was kann ein Führer gegen ein Heer von Aber-gläubischen. Laß mich in Ruhe, sagte ich. Groß vor mir stand der Klytaimnestra Rache.