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Damals, nach der ersten Begegnung mit diesem Unglücksmenschen, sagte ich Arisbe: Dem Priamos hätte kein Priester ein solches Opfer abverlangen dürfen. Arisbe sah mich groß an, da fiel mir Paris ein. War es dasselbe. War es wirklich dasselbe: einen Säugling heimlich töten lassen und ein erwachsnes Mädchen öffentlich schlachten? Und ich erkannte nicht, daß es dasselbe war? Weil es nicht mich, die Tochter, betraf, sondern Paris, den Sohn? Du brauchst viel Zeit, meine Liebe, sagte Arisbe.

Ich brauchte viel Zeit. Meine Vorrechte stellten sich zwischen mich und die allernötigsten Einsichten, auch meine Anhänglichkeit an die eignen Leute, die nicht von den Vorrechten abhing, die ich genoß. Beinah erschrak ich, daß mir das steif-stolze Gehabe der Königsfamilie peinlich war, als wir in feierlichem Zug, gemeinsam mit dem Gastfreund Menelaos, der Pallas Athene ihr neues Gewand brachten. Neben mir Panthoos, den ich spöttisch lächeln sah. Lachst du den König aus, fragte ich ihn scharf. Da sah ich zum erstenmal etwas wie Angst in seinen Augen. Und ich sah, er hatte einen sehr zerbrechlichen Körper, auf dem ein etwas zu großer Kopf saß.

Begriff, warum er mich »kleine Kassandra« nannte. Womit er im gleichen Moment aufhörte. Ebenso wie er aufhörte, mich nachts zu besuchen. Eine ganze Zeitlang besuchte niemand mich bei Nacht. Natürlich litt ich, haßte mich für die Träume, in denen ich mich auf verquere Weise befreite, bis sich dieser ganze Aufwand an Gefühl als das herausstellte, was er war: Unsinn, und sich in Nichts auflöste.

Das denkt sich so, aber was soll ich machen, ich habe es hinter mir. Der Übertritt aus der Palastwelt in die Welt der Berge und Wälder war auch der Übergang von der Tragödie in die Burleske, deren Kern es ist, daß man sich selbst nicht tragisch nimmt.

Wichtig - das ja, und warum auch nicht. Aber eben nicht tragisch, wie die oberen Schichten im Palast es tun. Tun müssen. Wie anders könnten sie sich ein Recht auf ihre Selbstsucht einreden. Wie anders ihren Genuß noch steigern, als dadurch, daß sie ihm einen tragischen Hintergrund geben. Dabei hab ich ihnen tüchtig geholfen, auf meine Weise, also um so glaubhafter. Der Wahnsinn, der ins Gastmahl einbricht - was könnte grauenvoller und daher appetitsteigernder sein. Ich schäme mich nicht. Nicht mehr. Aber vergessen habe ich es auch nicht können. Wie ich, es war der Vorabend der Abreise des Menelaos, zugleich der Vorabend für das DRITTE SCHIFF, beim Königsmahl saß, rechts neben mir Hektor, den wir Geschwister unter uns »dunkle Wolke« nannten, links, beharrlich schweigend, Polyxena. Gegenüber der ganz junge liebreizende Bruder Troilos mit der klugen Briseis, des abtrünnigen Kalchas Tochter: beide ein Paar, das sich, was meiner Eitelkeit schmeichelte, ausgerechnet unter meinen Schutz gestellt hatte. Am Kopf der Tafel Priamos, Hekabe, Menelaos, der Gast, den niemand mehr »Gastfreund« nennen sollte. Was? Wer verbot denn das!

Eumelos, hieß es. Eumelos? Wer ist Eumelos. Achja. Jener Mann im Rat, dem jetzt die Palastwache unterstand. Seit wann entschied ein Offizier über den Gebrauch von Wörtern. Seitdem die, die sich die »Königspartei« nannten, in dem Spartaner Menelaos nicht den Gastfreund, sondern den Kundschafter oder Provokateur sahn.

Den künftigen Feind. Seitdem sie ihn mit einem Sicherheitsnetz umgeben hatten. Ein neues Wort. Dafür gab man das alte, Gastfreund, her. Was sind Wörter. Auf einmal sahn sich, die an »Gastfreund« festhielten, auch ich, beargwöhnt. Aber die Palastwache war ein kleiner Haufen, der nur an hohen Festtagen in Prachtuniform den König umgab. Dies würde anders werden, und zwar gründlich, versprach Eumelos.

Wer? Eumelos. Der wurde schief angesehen, der den Namen immer noch nicht kannte. Eumelos, Sohn eines niedrigen Schreibers und einer Sklavin aus Kreta. Den jedermann - jedermann in der Umgebung des Palastes - auf einmal »fähig« nannte.

Ein fähiger Mann am rechten Platz. Doch hatte diesen Platz der Fähige für sich erfunden. Na und? War es nicht immer so! Aussprüche des Eumelos kursierten unter der Beamtenschaft, die abgeschmackt waren und über die ich mit Bruder Troilos und seiner Briseis sarkastische Bemerkungen tauschte. Nun traf ich junge Männer mit den Insignien der Palastwache auf den Straßen Troias, die sich anders benahmen, als junge Männer sich bei uns zu benehmen pflegten. Anmaßend. Mir verging das Lachen. Ich bin blöd genug, sagte ich Panthoos, zu denken, einige folgen mir. Sie sind blöd genug, dir zu folgen, sagte Panthoos. Mindestens, wenn du zu mir kommst.

Panthoos der Grieche war als der Konspiration mit Menelaos dem Griechen verdächtig unter Beobachtung gestellt. Jeder, der sich ihm näherte, geriet ins Netz.

Auch ich. Kaum zu glauben: Der Himmel verdunkelte sich. Fatal der leere Raum, der sich um mich gebildet hatte.

Abends beim Gastmahl konnte man die Gruppierungen mit den Augen unterscheiden, das war neu. Hinter meinem Rücken hatte Troia sich verändert.

Hekabe die Mutter war nicht auf der Seite dieses Eumelos. Ich sah, wie ihr Gesicht versteinte, wenn er sich ihr näherte. Anchises, des Aineias vielgeliebter Vater, schien die Gegenpartei anzuführen. Freundschaftlich und offen sprach er mit dem irritierten Menelaos. Priamos schiens allen recht machen zu wollen. Paris aber, mein geliebter Bruder Paris, gehörte schon dem Eumelos. Der schlanke schöne Jüngling, hingegeben an den massigen Mann mit dem Pferdegesicht.

Über ihn hab ich viel nachdenken müssen. Immer, wenn ich es recht überlege, hat er nach Beachtung geschielt. Sich vordrängeln müssen. Wie sein Gesicht sich verändert hatte, angestrengt war es jetzt, eine Spannung um die Nase herum verzerrte es eigentümlich. Seine blonden Locken zwischen den dunklen Köpfen der anderen Söhne und Töchter der Hekabe. Wie Eumelos das Gewisper um die Ungewisse Herkunft des Paris zum Schweigen brachte: Sehr wohl sei dieser Paris aus königlichem Geblüt, nämlich der Sohn unsrer verehrten Königin Hekabe und eines Gottes: Apollon. Des Paris affektierte Kopfbewegung, wenn jemand auf seine göttliche Herkunft anspielte, was uns allen peinlich war, denn im Palast brauchte man kein Wort darüber zu verlieren, daß eine Behauptung wie die göttliche Abkunft eines Menschen als Gleichnis zu verstehen war. Wer wußte denn nicht, daß jene Kinder, die nach der zeremoniellen Entjungferung der Frauen im Tempel zur Welt kamen, alle göttlicher Abkunft waren. Und daß die Palastgarde eine drohende Haltung einnahm, wenn irgend jemand, mochte es selbst Hektor sein, der Königsnachfolger, den Paris weiter mit seinem Namen verspottete: Tasche Tasche. Aber Spott war unser liebstes Gesellschaftsspiel. Sollte man sich also nicht mokieren dürfen über den Plan, die verwitterte Hirtentasche, in welcher der Hirte Paris getragen hatte, neben Bogen und Lyra des Gottes am Apollon-Tempel aufzuhängen? Nein. Die Priesterin Herophile, jene dünnlippige lederwangige Frau, die mich nicht leiden konnte, verhinderte die Gotteslästerung. Aber des Eumelos Truppe setzte durch, daß vor dem Südtor, durch das Paris nach Troia zurückgekommen war, eine ausgestopfte Bärin aufgestellt wurde: Zum Zeichen, daß eine Bärin das Königskind Paris säugte, welches seine Eltern aussetzen ließen.