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Helena. Der Name traf uns wie ein Stoß. Die schöne Helena. Darunter tat es der kleine Bruder nicht. Man hätte es wissen können. Man hatte es gewußt. Ich war Zeugin, wie im Hin und Her zwischen dem Palast und den Tempelpriestern, in Tag-und Nachtsitzungen des Rats eine Nachricht hergestellt wurde, hart, gehämmert, glatt wie eine Lanze: Paris der Troerheld habe auf Geheiß unsrer lieben Göttin Aphrodite Helena, die schönste Frau Griechenlands, den großmäuligen Griechen entführt und so die Demütigung gelöscht, die unserm mächtigen König Priamos einst durch den Raub seiner Schwester angetan worden war.

Jubelnd lief das Volk durch die Straßen. Ich sah eine Nachricht zur Wahrheit werden. Und Priamos hatte einen neuen Titeclass="underline" »Unser mächtiger König«. Später, je aussichtsloser der Krieg wurde, mußte man ihn »Unser allermächtigster König«

nennen. Zweckmäßige Neuerungen, sagte Panthoos. Was man lange genug gesagt hat, glaubt man am Ende. Ja, erwiderte ihm Anchises trocken. Am Ende. Ich dachte wenigstens den Sprachkrieg aufzuhalten. Nie sagte ich anders als »Vater« oder höchstens »König Priamos«. Aber ziemlich genau erinnere ich mich an den schalltoten Raum, in den solche Worte fielen. Du kannst dir das leisten, Kassandra, hörte ich. Es stimmte. Sie leisteten es sich, Mord und Totschlag weniger zu fürchten als die grollende Augenbraue ihres Königs und die Denunziation durch Eumelos. Ich leistete mir ein bißchen Voraussicht und ein kleines bißchen Trotz. Trotz, nicht Mut.

Wie lange hab ich an die alten Zeiten nicht gedacht. Es stimmt: Der nahe Tod mobilisiert nochmal das ganze Leben. Zehn Jahre Krieg. Sie waren lang genug, die Frage, wie der Krieg entstand, vollkommen zu vergessen. Mitten im Krieg denkt man nur, wie er enden wird. Und schiebt das Leben auf. Wenn viele das tun, entsteht in uns der leere Raum, in den der Krieg hineinströmt. Daß auch ich mich anfangs dem Gefühl überließ, jetzt lebte ich nur vorläufig; die wahre Wirklichkeit stünde mir noch bevor; daß ich das Leben vorbeigehn ließ: Das tut mir mehr als alles andre leid.

Panthoos kam wieder zu mir, seit ich für gesund galt. In seinen Liebesakten - aber so sollte ich, was er an mir ausübte, nicht nennen, mit Liebe hatte es nichts zu tun -

verspürte ich einen neuen Zug von Unterwürfigkeit, die ich nicht wollte, und er gab mir zu, vor meiner Krankheit hätte ich ihn nicht gereizt wie jetzt. Ich hätte mich verändert. Aineias mied mich. Klar, gab er später zu. Du hattest dich verändert.

Der abwesende Paris wurde in Gesängen gefeiert. Die Angst lag in mir auf der Lauer. Nicht nur in mir. Ungebeten deutete ich dem König einen Traum, den er bei der Tafel erzählt hatte: Zwei Drachen, die miteinander kämpften; der eine trug einen goldgehämmerten Brustpanzer, der andre führte eine scharf geschliffene Lanze. Der eine also unverletzlich und unbewaffnet, der andre bewaffnet und haßerfüllt, jedoch verletzlich. Sie kämpften ewig.

Du liegst, sagte ich dem Vater, mit dir selbst im Widerstreit. Hältst dich selbst in Schach. Lahmst dich.

Wovon redest du, Priesterin, erwiderte Priamos förmlich. Längst hat mir Panthoos den Traum gedeutet: Der goldgepanzerte Drache bin natürlich ich, der König. Bewaffnen muß ich mich, um meinen tückischen und schwerbewaffneten Feind zu überwältigen. Den Waffenschmieden hab ich schon befohlen, ihre Produktion zu steigern.

Panthoos! rief ich im Tempel. Und? sagte der. Es sind doch alles Bestien, Kassandra. Halb Bestien, halb Kinder. Sie werden ihren Begierden folgen, auch ohne uns. Muß man sich denen in den Weg stelin? Daß sie uns niedertrampeln? Nein. Ich habe mich entschieden.

Entschieden hast du dich, die Bestie in dir selbst zu füttern, sie in dir aufzustacheln. Sein grausam maskenhaftes Lächeln. Aber was wußte ich von diesem Mann.

Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter ändern Sätzen: Laßt euch nicht von den Eignen täuschen.

Paris, als er nach Monaten doch noch kam, merkwürdigerweise auf einem ägyptischen Schiff, brachte eine tief verschleierte Person von Bord. Das Volk, wie nun üblich hinter einer Sicherheitskette von Eumelos-Leuten zurückgedrängt, verstummte atemlos. In jedem einzelnen erschien das Bild der schönsten Frau, so strahlend, daß sie ihn, wenn er sie sehen könnte, blenden würde. Schüchtern, dann begeistert kamen Sprechchöre auf: He-le-na. He-le-na. Helena zeigte sich nicht. Sie kam auch nicht zur Festtafel. Sie war von der langen Seereise erschöpft. Paris, ein anderer, überbrachte vom König von Ägypten raffinierte Gastgeschenke, erzählte Wunderdinge. Er redete und redete, ausschweifend, arabesk, mit Schlenkern, die er wohl für witzig hielt. Er hatte viele Lacher, er war ein Mann geworden. Ich mußt ihn immer ansehn. Seine Augen kriegt ich nicht zu fassen. Woher kam der schiefe Zug in sein schönes Gesicht, welche Schärfe hatte seine einst weichen Züge geätzt.

Von den Straßen her drang ein Ton in den Palast, den wir vorher nie gehört hatten, vergleichbar dem bedrohlichen Summen eines Bienenstocks, dessen Volk sich zum Abflug sammelt. Die Vorstellung, im Palast ihres Königs weile die schöne Helena, verdrehte den Leuten die Köpfe. Ich verweigerte mich in dieser Nacht dem Panthoos.

Wütend wollte er mich gewaltsam nehmen. Ich rief nach Parthena der Amme, die gar nicht in der Nähe war. Panthoos ging, verzerrten Gesichts stieß er wüste Beschimpfungen aus. Das rohe Fleisch unter der Maske. Die Trauer, die mich manchmal schwarz aus der Sonne heraus überfiel, suchte ich mir zu verbergen.

Jede Faser in mir verschloß sich der Einsicht, daß keine schöne Helena in Troia war. Als die anderen Palastbewohner zu erkennen gaben, daß sie begriffen hatten. Als ich die liebliche schönhalsige Oinone schon zum zweitenmal im Morgengrauen vor des Paris Türe traf. Als der Legendenschwarm um die unsichtbare schöne Frau des Paris verlegen in sich zusammenfiel. Als alle die Blicke senkten, wenn ich, nur ich noch, immer wieder wie unter Zwang Helenas Namen nannte, mich sogar erbot, die immer noch Ermüdete zu pflegen, und zurückgewiesen wurde - selbst da wollt ich das Undenkbare noch nicht denken. Wirklich, an dir konnte man verzweifeln, hat Arisbe mir gesagt. Ich griff nach jedem Strohhalm, und wer wollte eine Abordnung des Menelaos, die in starken Worten ihre Königin zurückverlangte, einen Strohhalm nennen. Daß sie sie wiederhaben wollten, bewies mir, daß sie hier war. Mein Gefühl ließ keinen Zweifeclass="underline" Helena sollte nach Sparta zurück. Doch war mir klar: Der König mußte diese Forderung ablehnen. Mit ganzem Herzen wollt ich mich an seine Seite, an die Seite Troias stellen. Auf den Tod könnt ich nicht einsehn, warum im Rat noch eine ganze Nacht gestritten wurde. Paris, grünbleich, verkündete wie ein Verlierer: Nein. Wir liefern sie nicht aus. - Mann, Paris! rief ich. Freu dich doch! Sein Blick, endlich sein Blick, gestand mir, wie er litt. Dieser Blick gab mir den Bruder zurück.

Wir haben ja dann alle den Anlaß für den Krieg vergessen. Nach der Krise im dritten Jahr hörten auch die Kriegsleute auf, den Anblick der schönen Helena zu fordern.

Mehr Ausdauer, als ein Mensch aufbringen kann, hätte es gebraucht, immer weiter einen Namen im Munde zu führen, der immer mehr nach Asche schmeckte, nach Brand und Verwesung. Sie ließen von Helena ab und wehrten sich ihrer Haut. Um aber dem Krieg zujubeln zu können, hatten sie diesen Namen gebraucht. Er erhob sie über sich hinaus. Beachtet, sagte Anchises uns, des Aineias Vater, der gerne lehrte und uns, als das Ende des Krieges abzusehn war, zwang, über seinen Beginn nachzudenken, beachtet, daß sie eine Frau genommen haben. Ruhm und Reichtum hätte auch ein Mannsbild hergegeben. Aber Schönheit? Ein Volk, das um die Schönheit kämpft! - Paris selbst war, widerwillig, schien es, auf den Marktplatz gekommen und hatte den Namen der schönen Helena dem Volke hingeworfen. Die Leute merkten nicht, daß er nicht bei der Sache war. Ich merkte es. Warum sprichst du so kalt von deiner warmen Frau? hab ich ihn gefragt. Meine warme Frau? war seine höhnische Antwort. Komm zu dir, Schwester. Mensch: Es gibt sie nicht.