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Bei Neumond kam Aineias. Merkwürdig, daß Marpessa nicht, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, im Vorraum schlief. Nur einen Augenblick lang sah ich sein Gesicht, als er das Licht ausblies, das neben der Tür in einem Ölbad schwamm. Unser Erkennungszeichen war und blieb seine Hand an meiner Wange, meine Wange in seiner Hand. Wir sagten uns kaum mehr als unsre Namen, ein schöneres Lie-besgedicht hatte ich nie gehört. Aineias Kassandra. Kassandra Aineias. Als meine Keuschheit seiner Scheu begegnete, wurden unsre Körper toll. Was meinen Gliedern einfiel auf die Fragen seiner Lippen, welch unbekannte Sinne sein Geruch mir schenken würde, hatte ich nicht ahnen können. Und welcher Stimme meine Kehle fähig war.

Doch Troias Seele sollte nicht in Troia sein. Sehr früh am nächsten Morgen ging er mit einer Schar Bewaffneter - daß es Dardaner waren, seine Leute, hatte er sich erkämpfen müssen - aufs Schiff, welches für lange Zeit die letzten Waren an die Schwarzmeerküste brachte. Ich glaube, und verstand ihn, doch verstand ihn nicht, daß Aineias lieber ging als blieb. Schwer war es allerdings, sich ihn und Eumelos an einem Tisch zu denken. Halt dich an meinen Vater, hat er mir eingeschärft. Für vie le Monate entschwand er mir. Die Zeit schien langsamer zu laufen, blaß und sche-menhaft blieb sie mir im Gedächtnis, unterteilt nur durch die großen Rituale, an denen ich mitzuwirken hatte, und die öffentlichen Orakelverkündigungen, zu denen unser Volk, der Tröstung sehr bedürftig, zusammenströmte. Bruder Helenos und der Poseidon-Priester Laokoon, ein gestandener Mann, waren die beliebtesten Orakelsprecher, doch ich konnte mir nicht verhehlen, daß sie leeres Geschwätz verbreiteten.

Helenos, eher verwundert über meinen Unwillen, wollte nicht bestreiten, daß es so etwas wie bestellte Orakel gab. Von wem bestellt. Nun: vom Königshaus; vom Tempel. Was focht mich an. So war es immer gewesen, denn die Orakelsprecher waren die Münder derer, welche sie bestellten und die beinahe wie die Götter selber göttlich waren. Wie selten, das müßte gerade ich doch wissen, ließ ein Gott sich herab, durch uns zu sprechen. Aber wie häufig brauchten wir der Götter Rat.

Wem schadete es also, wenn er, Helenos, verkündete, die Griechen würden niemals unsre Stadt erobern, es sei denn durch das schwächste Tor, das Skäische?

Was er übrigens, subjektiv gesprochen, auch für wahr hielt und was die sehr erwünschte Wirkung habe, die Wachen am Skäischen Tor in ihrer Wachsamkeit noch zu bestärken. Oder Laokoon. Aus den Eingeweiden des letzten Opferstieres habe er herausgelesen, nur wenn zehn von den zwölf weißen Pferden unsres königlichen Marstalls in die Hand der Griechen kämen, geriete Troia in Gefahr. Ein undenkbarer Fall. Doch nun sei auch die rechte Flanke innerhalb der Festung - dort, wo der Marstall war - besonders sicher. Was ich um alles in der Welt dagegen hätte.

Nichts, konnte ich nur sagen. Wie soll ich das erklären. Helenos war ein leichtsinniger Mensch, doch kein Täuscher. Er, der Gleichaltrige, Hübsche, zu dem ich mich immer gern herablassend verhielt, mir überlegen. Wodurch. Durch seinen Glauben, zweifellos. An die Götter? Nein. Daß wir im Recht waren, doppelt im Recht, wenn wir der Götter Wort zu uns herniederzwangen. Er handelte und sprach in gutem Glauben, daß die Welt genauso war, wie er sie verkündete. Niemand hat ihm einen Zweifel beibringen können, nie sah ich auch nur den Schatten jenes Lächelns auf seinem Gesicht, das sich in die Mundwinkel des Panthoos inzwischen eingegraben hatte. Seine Beliebtheit nahm er an, wie die Leute es gerne haben: leichthin, als ihm gebührend, und ohne sie und sich unnötig zu belasten. Merkwürdig gut verstand er sich mit Hektor, von dem er überraschend eines Tags verkündete, er werde Troias Ruhm durch alle Zeiten tragen. Andromache, seit Beginn des Krieges Hektors Frau, treu, häuslich, eher unscheinbar, heulte sich die Augen aus dem Kopf. Sie kam zu mir gelaufen, wie die Leute es sich angewöhnt hatten, um mir ihre Träume zu erzählen.

Hektor aber träumte, sagte mir Andromache, aus dem warmen Schoß einer Hündin sei er durch eine entsetzliche Enge in die Welt gestoßen worden und alsbald gezwungen, sich aus dem beschützten und beleckten kleinen Hündchen in einen reißwütigen Eber zu verwandeln, der gegen einen Löwen antritt und von dem - bei sengender Sonne! -

überwältigt und zerrissen wird. In Tränen gebadet, vertraute Andromache mir an, sei ihr Mann erwacht. Er sei doch nicht der Mensch, aus dem man Helden macht. Bei Hekabe solle ich um der Götter willen für ihn bitten, er sei ihr Lieblingssohn, das wisse jeder.

Was war doch mein ältester Bruder für ein Kind geblieben. Ich hatte einen Zorn auf Hekabe, die ihn verzärtelt und so klein gehalten hatte, und fand es recht und billig, daß sie für ihn eintrat. Zu meiner großen Überraschung saß Anchises bei ihr, des Aineias sehr geliebter Vater. Es gab keinen Zweifel, Hekabe die Mutter hatte ihn zu ihrem Trost bestellt, da sie für Hektor nichts, gar nichts tun konnte, sie bauten ihn zum Ersten Helden auf. Hektor, »dunkle Wolke«! Unter meinen Brüdern gab es etliche, die sich besser dazu eigneten, im Kampf voranzugehn, als er. Doch Eumelos wollte die Königin treffen, in ihrem Lieblingssohn. Bewährte er sich nicht als Held, so wurde er und mit ihm seine Mutter das Gespött der Stadt. Ging er, so wie man es verlangte, als der erste in den Kampf, so fiel er, früher oder später. Verfluchter Eumelos. Hekabe sah mich an und sagte: Verfluchter Krieg. Wir schwiegen, alle drei.

Mit diesem Schweigen, an dem mehrere beteiligt sind, so lernte ich, beginnt Protest.

Anchises. War Anchises hier. Wäre er bei mir, alles ließe sich ertragen. Er ließ die Angst nicht zu, daß irgend etwas, was auch geschehen mochte, unerträglich sei. Ja, es gebe Unerträgliches. Doch warum es fürchten, lange eh es da ist! Warum nicht einfach leben, und wenn möglich, heiter. Heiterkeit, das ist das Wort für ihn, allmählich sah ich auch, woher sie kam: Er durchschaute die Leute, vor allem sich selbst, und hatte Spaß daran, nicht Ekel, wie Panthoos. Anchises war, nein: ist ein freier Mensch. Auch über die ihm übel wollen, denkt er unbefangen nach. Zum Beispiel Eumelos. Nie wäre mir doch in den Sinn gekommen, vorurteilsfrei und heiter über Eumelos zu reden. Ihn nicht zu fürchten und zu hassen, sondern zu verstehn und Mitleid für ihn zu empfinden. Nehmt doch bloß mal, forderte Anchises, daß er keine Frau hat. Jaa - ihr Frauen ahnt nicht, was das einem Mann bedeutet. Daß er Sklavinnen zwingen muß, ihm beizuwohnen. Daß er eure Schadenfreude riecht. Ein Mann wie der riecht doch, was um ihn her passiert. Der ist doch, wie wir alle, nur darauf aus, dahin zurückzukehren, wo es ihm einmal gut gegangen ist: unter eure Röcke. Das verwehrt ihr ihm. Da rächt er sich, so einfach ist das. Etwas Entgegenkommen eurerseits, und er ist geheilt, wer weiß.

Wie wir auf ihn losgegangen sind. Das Böse als Mangel? Als Krankheit? Heilbar also? Nun, mag sein, gab er dann zu, nicht mehr bei Eumelos. Doch dabei bleibe er: Der Mensch sei ein Produkt von Troia, genau wie - sagen wir, der König Priamos.

Anchises vertrat lachend die ungeheuerlichsten Dinge, aber hier ging er zu weit.

Eumelos war, rief ich, eine Fehlentwicklung, etwas wie ein Unfall, ein Versehen der Götter, wenn es das gäbe. Wenn es sie gäbe. Während Priamos... Während Priamos, sagte Anchises trocken, nichts weiter tut, als Eumelos in seine Ämter einzusetzen.