Stimmts? Auch eine Fehlentwicklung? - Allerdings. - Ein Zufall, also?
Was war dazu zu sagen. O wie ich mich sträubte, zuzugeben, daß Priamos und Eumelos ein Paar warn, das einander brauchte. Für Wochen mied ich den Anchises, bis Unglaubliches geschah: Die Palastwache verwehrte Hekabe der Königin die Teilnahme an den Sitzungen des Rats.
Jetzt, dachte ich, als ich es hörte, jetzt stürzt die Ordnung im Palast zusammen, und staunte selbst, daß ich nicht nur angstvoll, auch entzückt auf die Veränderung gespannt war, die nun unausweichlich wurde. Nichts geschah. Blicklos, berichtete die Mutter Hekabe in Anchises' Hütte, wohin ich atemlos gelaufen kam: blicklos seien alle Männer an ihr vorbei zum Rat gegangen. Auch mein Sohn * Hektor, sagte bitter Hekabe. Ihm trat ich in den Weg. Maß ihn mit Blicken, nun, ihr wißt ja, wie ich blicken kann. Versteh doch, Mutter, sagte er. Man will dich schonen. Was jetzt, im Krieg, in unserm Rat zur Sprache kommen muß, ist keine Frauensache mehr.
Freilich, sagte Anchises: Das wird nun Kindersache.
Alles, was sie bedrückte, besprach nun Hekabe die Königin mit ihm. Mir war es nicht geheuer, meine Mutter und den Vater des Aineias auf vertrautem Fuß zu sehen.
Aber ich gestand ihr zu: Alles wurde leichter mit Anchises. Er verehrte Hekabe, man sah, er hätte sie nicht weniger verehrt, wenn sie nicht des Königs Frau gewesen wäre.
Mir kam er entgegen wie einer sehr geliebten und geachteten Tochter, doch sprach er nicht von seinem Sohn Aineias, eh ich selber von ihm sprach. Sein Zartgefühl war unantastbar wie seine Heiterkeit. Nicht nur mit dem beweglichen Gesicht, mit seinem ganzen hohen kahlen Schädel drückte er aus, was er empfand. Oinone, die ihn liebte wie einen Vater, pflegte zu sagen: Sein Mund lacht, aber seine Stirn ist traurig. Oder man mußte nur auf seine Hände sehn, die beinahe immer ein Stück Holz bearbeiteten, wenigstens betasteten, wobei seine Augen plötzlich lauschen konnten, um zu erfahren, welche Eigenschaft oder Gestalt in diesem Holz verborgen war. Nie ließ er einen Baum fällen, ohne sich vorher ausführlich mit ihm zu besprechen, nie ohne ihm vorher mit einem Samen oder Reis, das er von ihm gewann und in die Erde senkte, sein Weiterleben zuzusichern. Über Holz und Bäume wußte er alles, was es zu wissen gab. Und die Figuren, die er schnitzte, wenn wir zusammenhockten, und die er dann wie eine Auszeichnung verschenkte, wurden unter uns zum Erkennungszeichen.
Kamst du in ein Haus und fandest Schnitzwerk von Anchises, Tier oder Mensch, so wußtest du, du konntest offen reden, konntest in jeder Angelegenheit, und sei sie noch so heikel, um Hilfe bitten. So versteckten wir Myrine, als die Griechen alle Amazonen niedermetzelten, und manche ihrer Schwestern in Hütten, in deren Vorraum ein Kälbchen, eine Ziege oder ein Schwein aus Holz von unserem Anchises stand.
Wortlos zogen die Frauen sie zum Feuer, warfen ihnen ein Stück Kleidung über, schwärzten ihre Wangen, drückten ihnen, die Frauenarbeit gar nicht kannten, eine Spindel, einen Löffel in die Hand, nahmen auch ihr jüngstes Kind vom Lager und setzten es der abgehetzten Fremden auf den Schoß. Nie hat eine Familie, der Anchises eine Figur gegeben, uns enttäuscht. Er kannte Menschen. Auch zu seiner Hütte unterm Feigenbaum vor dem Dardanischen Tor kam nur, wer zu ihm paßte. Übrigens, er sprach mit jedem, keinen, der ihn besuchen wollte, wies er ab. Er empfing auch Andron, den jungen Offizier des Eumelos, der uns durchsuchen ließ, als wir Briseis abgeliefert hatten. Das ging mir sehr gegen den Strich; sollte Hekabe, die häufig kam, um Anchises nicht zuzumuten, in den Palast zu ihr zu kommen; sollten Oinone, Parthena die Amme, sollten Marpessa oder gar Arisbe diesem Menschen hier begegnen! Warum nicht, sagte Anchises ungerührt. Besser hier als anderswo. Sprich doch mit ihm. Was kostets dich. Eh er tot ist, soll man keinen Menschen für verloren geben. Ich schämte mich, ohne ihm zuzustimmen. Mit Göttern hatte er, soviel ich sehen konnte, nichts zu tun. Doch glaubte er an Menschen. Wenn es danach ging, so war er jünger als wir alle. Bei ihm, unter dem wechselnden Laub des mächtigen Feigenbaumes, hat unser ungezwungenes Leben angefangen, mitten im Krieg, ganz schutzlos, inmitten der immer noch anwachsenden Schar bis über den Kopf Bewaffneter. Während vor meinem ungläubigen Blick die innere Ordnung des Palastes sich veränderte, die ich für ewig hielt, so wie auf einem Fluß die kleinern Hölzer, Strohhalme und Gräser, die er mit sich führt, der stärkeren Strömung folgen.
Die stärkere Strömung war die Partei des Königs, zu der ich, seine Tochter, also nicht gehörte. Sondern die aus Jüngern Leuten sich zusammensetzte, die in Gruppen gingen, laut sich äußerten, wenn sie beisammen waren, sich ständig von den anderen angegriffen fühlten, sich gegen Anwürfe verteidigen zu müssen glaubten, die gar nicht laut geworden waren, und auch eilfertige Leute fanden, Barden, Schreiber, die ihnen für ihr peinliches Gehabe die Redensarten lieferten. »Sein Gesicht wahren« war eine.
»Keine Wirkung zeigen« eine andere. Anchises schüttelte sich vor Lachen. Was heißt denn das! rief er. Als ob man sein Gesicht nicht wahren könnte. Oder geben sie uns ohne es zu wissen zu verstehn, ihre Gesichter, die sie für gewöhnlich zeigen, sind gar nicht ihre? Dummköpfe.
Wirklich. Alles wurde leichter mit Anchises. Denn wie ich aus dem Bereich des Feigenbaumes mich entfernte, hatte ichs schwer, jedenfalls kam es mir so vor. Ein Teil von mir, der freudige, freundliche, unbefangene blieb dort, außerhalb der Zitadelle, bei »ihnen«. »Sie« sagte ich von den Leuten um Anchises, nicht »wir«, wir zu sagen war mir noch nicht erlaubt. Schwankend und gebrechlich und diffus war das
»Wir«, das ich, solange es nur ging, benutzte. Es schloß den Vater ein, aber schloß es mich noch ein? Doch ein Troia ohne König Priamos den Vater gab es für mich nicht.
Schweren Herzens kam der Teil von mir, der königstreu, gehorsam, übereinstimmungsbesessen war, jeden Abend in die Burg zurück. Durchsichtig, schwächlich, immer unansehnlicher wurde mein Wir, an dem ich festhielt, unfühlbarer daher für mich selbst mein Ich. Und dabei war ich für die Leute alles andre als unkenntlich, ihnen war klar und sie hatten es festgelegt, was ich war, eine Prophetin und Traumdeuterin. Eine Instanz. Wenn die Aussicht auf die Zukunft, wenn ihre eigne Ohnmacht sie bedrängte, kamen sie zu mir. Polyxena, die geliebte Schwester, hatte damit angefangen, ihr folgten ihre Freundinnen, die Freundinnen der Freundinnen. Ganz Troia träumte und unterbreitete die Träume mir.
Ja. Ja. Ja. Jetzt werd ich mit mir selbst von Polyxena sprechen. Von jener Schuld, die nicht zu tilgen ist, und würde Klytaimnestra mich zwanzigmal erschlagen. Polyxena war der letzte Name zwischen Aineias und mir, unser letztes, vielleicht einziges Mißverständnis. Ihretwegen, glaubte er, könne ich nicht mit ihm gehn, und versuchte mich zu überzeugen, daß ich der toten Schwester nicht mehr helfen würde, wenn ich blieb. Aber wenn ich etwas wußte, war es doch das. Wir hatten nicht die Zeit, über meine Weigerung, mit ihm zu gehn, die nicht die Vergangenheit betraf, sondern die Zukunft, uns gründlich auszusprechen. Aineias lebt. Er wird von meinem Tod erfahren, wird, wenn er der ist, den ich liebe, sich weiter fragen, warum ich das wählte, Gefangenschaft und Tod, nicht ihn. Vielleicht wird er auch ohne mich begreifen, was ich, um den Preis des Todes, ablehnen mußte: die Unterwerfung unter eine Rolle, die mir zuwiderlief.
Ausweichen, ablenken, so wie immer, wenn ihr Name ansteht: Polyxena. Sie war die andere. Sie war, wie ich nicht sein konnte. Hatte alles, was mir fehlte. Zwar nannte man mich »schön«, das weiß ich, sogar »die Schönste«, aber man blieb ernst dabei. Wenn sie vorbeiging, lächelten sie alle, der erste Priester und der letzte Sklave wie das dümmste Küchenmädchen. Ich suche ein Wort für ihre Erscheinung, ich kann nicht anders, mein Glaube, daß eine geglückte Wendung, Worte also, jede Erscheinung, jedes Vorkommnis befestigen, ja oftmals sogar hervorbringen können, überdauert mich. Aber bei ihr versag ich. Sie war aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt, aus Liebreiz, Schmelz und Festigkeit, ja Härte, in ihrem Wesen war ein Widerspruch, der aufreizend wirkte, doch auch reizend, den man fassen, behüten oder aus ihr herausreißen wollte, und müßte man sie selbst dafür zerstören. Sie hatte viele Freunde, von denen sie nicht Abstand hielt, aus Schichten, in die ich damals gar nicht kam, sie sang mit ihnen, Lieder, die sie selber machte. Sie war gut und hatte zugleich den bösen Blick, mit dem sie mich durchschaute, nicht sich selbst. Ja. Sie anzunehmen, kostete mich Selbstverleugnung, sie kam mir nicht entgegen. Seit ich Priesterin geworden war, seit jenem Jahr des Schweigens gegen mich, gingen wir miteinander um, wie die Sitte des Palastes es von uns Schwestern forderte. Wir wußten aber beide, daß wir aufeinandertreffen mußten.