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Und wir wußten voneinander, daß wirs wußten.

Dann erschrak ich doch. Sie, ausgerechnet Polyxena, kam, mir ihre Träume zu erzählen. Und was für Träume. Unlösbare Verstrickungen. Und ich, ausgerechnet ich, sollte sie ihr deuten. Wonach sie mich nur hassen konnte, und das schien sie auch zu wollen. Mit einem zügellosen, forschenden und fordernden Blick lieferte sie sich mir aus. Sie träumte, aus einer Unratgrube, in der sie hauste, streckte sie ihre Arme aus nach einer Lichtgestalt, nach der sie sich verzehrte. Wer war der Glückliche, versuchte ich zu scherzen. Trug er einen Namen? Trocken sagte Polyxena: Ja. Es ist Andron.

Andron. Der Offizier des Eumelos. Mir verschlugs die Sprache. Verfluchtes Amt.

Ja, sagte ich. Was man halt so träumt. Den man am Tag zuletzt gesehn hat, sieht man auch im Traum. Das ist ohne Bedeutung, Polyxena. Von der Unratgrube schwieg ich.

Sie auch. Sie ging, enttäuscht. Kam wieder. Hatte sich, im Traum, auf die erniedrigendste Art mit Andron, dem Offizier des Eumelos, vereint, den sie im Wachen haßte. Sagte sie. Also was war los mit ihr. He, Schwester, sagte ich so burschikos wie möglich. Ich glaube, du brauchst einen Mann. - Den hab ich, sagte sie.

Er gibt mir nichts. Sie quälte sich. Haßvoll, als könne sie sich endlich an mir rächen, verlangte sie, daß ich aussprach, was sie selber sich nicht sagen konnte: daß etwas in ihr, das sie selbst nicht kannte, sie zwang, sich nach diesem aufgeblasenen Jüngelchen zu verzehren. Nach diesem Nichts von einem Mann, der auf keine andere Weise von sich reden machen konnte als durch den unehrenhaften Dienst bei Eumelos. Den sie verabscheute, sagte sie. Ich kann nicht sagen, daß ich ihr am Anfang hilfreich war.

Anstatt den Knoten, der sie einschnürte, zu lockern, zog ich ihn durch Unverständnis fester. Ich wollte es nicht wissen, wie es kam, daß meine Schwester Polyxena höchste Lust nur dann empfinden konnte, wenn sie sich bis in den Staub dem Unwürdigsten unterwarf. Ich vermochte nichts gegen die Verachtung, die mir Polyxenas Träume eingaben, die sie natürlich spürte, nicht vertrug. Sie hat mit diesem Andron heimlich ein Verhältnis angefangen. Das gab es nicht. Nie hatte eine von uns Schwestern nötig, ihre Neigung zu verbergen. Mit tiefem ungläubigen Unbehagen sah ich zu, wie die Zustände im Palast, so als würde an ihnen einer drehn, uns ihre Kehrseite zuwandten, eine liederliche Fratze. Wie sie, von einem ändern Zentrum aus, ein andres Über-gewicht bekamen. Und eins der Opfer, das sie unter sich begruben: Polyxena.

Nur, was ich damals nicht begriff und nicht begreifen wollte: daß manche nicht nur von außen, auch aus sich selbst heraus zum Opfer vorbereitet waren. Alles in mir stand dagegen auf. Warum?

Jetzt ist es auf einmal wirklich still. Unendlich dankbar bin ich für die Stille vor dem Tod. Für diesen Augenblick, der mich ganz erfüllt, daß ich gar nichts denken muß. Für diesen Vogel, der lautlos und entfernt den Himmel überfliegt und ihn verwandelt, unmerklich fast, aber mein Auge, das die Himmel alle kennt, ist nicht zu täuschen: So beginnt der Abend.

Die Zeit wird knapp. Was muß ich noch wissen.

Polyxena habe ich verachten müssen, weil ich mich selber nicht verachten wollte.

Das kann nicht sein. Aber ich weiß: So ist es. Wozu leb ich noch, wenn nicht, um zu erfahren, was man nur vor dem Tod erfährt. Polyxena, glaube ich, ging so über jedes Maß furchtbar zugrunde, weil nicht sie des Königs Lieblingstochter war, sondern ich.

Weil dies der Satz war, aus dem heraus ich viel zu lange lebte. Der stimmen mußte.

Der nicht angetastet werden durfte. Wem sonst noch hat sie ihr Geheimnis anvertraut, als mir der Schwester, mir der Seherin. Was nützt es ihr, was mir, jetzt jenen Satz zu wiederholen, den ich aus Schwäche damals fand: Ich bin auch nur ein Mensch. Was soll das »nur«. Ich war überfordert, das ist wahr. Sie, Polyxena, hat mir zuviel zugemutet, weil ihr zuviel zugemutet worden war. Um es kurz zu machen, während sie bei Andron schlief, begann sie von König Priamos zu träumen. Selten zuerst, aber stets das gleiche, dann häufiger, am Ende jede Nacht. Es war mehr, als sie ertragen konnte, in ihrer Not kam sie doch wieder zu mir. Der Vater tue ihr im Traum Gewalt an. Sie weinte. Niemand kann für seine Träume, aber man kann verschwiegen sein.

Das gab ich der Schwester zu verstehen. Ich glaube, daß ich vor Empörung zitterte.

Polyxena brach zusammen. Ich pflegte sie und sorgte, daß sie schwieg. Dies war die Zeit, da ich Aineias nicht empfangen konnte und er auch von allein nicht kam. Ich hörte auf, Anchises zu besuchen. In meinen Eingeweiden saß ein Tier, das fraß an mir und trieb mich um, später fand ich seinen Namen: Panik. Und nur im Tempelbezirk fand ich Ruhe.

Inbrünstig, so mußte es scheinen, verlor ich mich an die Zeremonien, vervollkommnete meine Techniken als Priesterin, lehrte die jungen Priesterinnen das Sprechen im Chor, das ja nicht einfach ist, genoß die weihevolle Atmosphäre an den großen Feiertagen, die Abgeschiedenheit der Priester von der Masse der Gläubigen, die führende Teilnahme an dem großen Schauspiel; die fromme Scheu und die Bewunderung in den Blicken der einfachen Leute; die Überlegenheit, die mein Amt mir gab. Ich brauchte es, dabei zu sein und zugleich nicht betroffen. Denn an die Götter zu glauben, hatte ich inzwischen aufgehört.

Außer Panthoos, der mich beobachtete, hat niemand das bemerkt. Seit wann ich mich ungläubig nennen mußte, könnte ich nicht sagen. War es ein Schreck gewesen, etwas wie Bekehrung, ich könnte mich erinnern. Aber der Glaube wich allmählich von mir, so wie manchmal eine Krankheit weicht, und eines Tages sagst du dir, du bist gesund. Die Krankheit findet keinen Boden mehr in dir. So auch der Glauben.

Welches wäre denn sein Boden noch gewesen. Als erstes fällt mir Hoffnung ein. Als zweites Furcht. Die Hoffnung hatte mich verlassen, Furcht kannt ich noch. Doch Furcht alleine hält die Götter nicht, sie sind sehr eitel, man soll sie auch lieben; der Hoffnungslose liebt sie nicht. Damals begann mein Gesicht sich zu verändern. Aineias war nicht da, man hatte ihn, wie üblich, weggeschickt. Ich fand, es hatte keinen Sinn, etwas von dem, was in mir vorging, irgendeinem Menschen mitzuteilen. Wir mußten diesen Krieg gewinnen, und ich, des Königs Tochter, glaubte immer weniger daran.

Ich stak fest. Mit wem sollte ich das besprechen.

Dazu kam, der Verlauf des Krieges schien mir nicht recht zu geben. Troia hielt stand. Dies Wort war schon zu groß, denn eine Zeitlang war es nicht bedroht. Die Griechen plünderten die Inseln und von uns entfernte Küstenstädte. Hinter ihrer starken Holzwehr ließen sie nur ein paar Schiffe, Zelte, wenig Wachmannschaft zurück - zu stark, um von uns vernichtet zu werden, zu schwach, uns anzugreifen.

Gerade die Gewöhnung an den Zustand war es, die mir die Hoffnung nahm. Wie konnte ein Troer lachen, wenn der Feind vor seiner Türe lauerte. Und Sonne. Immer Sonne. Phoibos Apollon, finster strahlend, übermächtig. Immer dieselben Orte, zwischen denen mein Leben sich verlief: Das Heiligtum. Der Tempelhain, dürr in diesem Jahr, der Skamander, der unsern Garten sonst bewässerte, war ausgetrocknet.

Meine Hütte aus Lehm, mein Lager, Stuhl und Tisch - die Unterkunft für Zeiten, wenn ich durch Tempeldienst an den Bezirk gebunden war. Der Weg zur Festung, leicht bergan, immer begleitet von zwei Wachsoldaten, die in zwei Schritt Abstand mir zu folgen hatten und nicht mit mir sprachen, weil ich mir das verbeten hatte. Das Tor in der Mauer. Der Ruf der Wachen, immer ein andres törichtes Losungswort, dem die Wächter oben töricht Antwort gaben. Nieder mit dem Feind! - Ins Nichts mit ihm!, in dieser Art. Dann die Fixierung durch den Offizier der Wache. Das Zeichen, daß das Tor geöffnet wurde. Immer der gleiche langweilige Weg zum Palast, immer die gleichen Gesichter vor den Häusern der Handwerker. Und wenn ich den Palast betreten hatte, die immer gleichen Gänge, die zu den immer gleichen Räumen führten, nur daß die Leute, die ich traf, mir immer fremder schienen. Bis heute weiß ich nicht, wie mir entgehen konnte, daß ich eine Gefangene war. Daß ich arbeitete, wie Gefangene arbeiteten, gezwungen. Daß meine Glieder sich nicht mehr von allein bewegten, daß mir auf Gehen, Atmen, Singen die Lust vergangen war. Für alles brauchte ich einen langwierigen Entschluß. Steh auf! befahl ich mir. Geh jetzt! Und wie mich alles anstrengte. Die ungeliebte Pflicht in mir fraß alle Freude auf. Nicht nur für den Feind, auch für mich war Troia uneinnehmbar geworden.