Выбрать главу

Durch dieses starre Bild laufen Gestalten. Viele namenlos - das war die Zeit, in der ich Namen schnell vergaß und Schwierigkeiten hatte, neue zu erlernen. Auf einmal gab es viele alte Leute, alte Männer. Ich traf sie in den Gängen des Palasts, die sonst wie ausgestorben lagen, Mumien, halbe Krüppel, die Sklaven mühsam vorwärtsschoben. Die gingen in den Rat. Dann sah ich auch die Brüder, die sonst bei der Truppe waren, Hektor dunkle Wolke, der mich immer ansprach, hören wollte, wie es mir, wie es den Frauen gehe, Andromache, die er sehr liebte, unserm Schutz befahl.

Und Paris, zermalmt, schief lächelnd, nur noch die Hülle seiner selbst, aber schärfer denn je. Man sagte mir, der gehe über Leichen - nicht Griechenleichen; Troerleichen, ein gefährlicher Mensch. Eine Scharte nach der ändern hatte der auszuwetzen, sein Leben lang. Mit dem war nicht zu rechnen. (Ja. Damals begann ich wie unter Zwang die Leute, die ich traf, für einen Notfall, den ich noch nicht kannte, einzuteilen: Mit dem ist zu rechnen, mit dem nicht. Wofür? Das wollte ich nicht wissen. Später stellte sich heraus, ich hatte mich nicht oft geirrt.)

Und König Priamos, der Vater. Das war ein Fall für sich, ein Fall für mich. Er wurde brüchig. Das war das Wort. König Priamos zerbröckelte, je mehr er gezwungen wurde, den König herauszukehren. Starr saß er bei den großen Feiern in der Halle, neuerdings erhöht neben, über Hekabe und hörte auf die Gesänge, die ihn priesen. Ihn und der Troer Heldentaten. Neue Sänger waren nachgewachsen, oder die alten, wenn sie noch geduldet wurden, änderten den Text. Die neuen Texte waren ruhmredig, marktschreierisch und speichelleckerisch, es war doch unmöglich, daß nur ich das merkte. Ich sah mich um; die glanzlosen Gesichter. Sie hatten sich im Zaum. Hatten wir das nötig. Ja, sagte Panthoos, mit dem ich, weil ich sonst keinen hatte, wieder manchmal sprach. Er ließ mich den Inhalt der Anweisung wissen, die gerade an die Oberpriester aller Tempel ergangen war: Der Schwerpunkt aller Feiern sei von den toten Helden auf die Lebenden zu verlegen. Ich war betroffen. Auf der Verehrung der toten Helden beruhte unser Glauben, unser Selbstgefühl. Auf sie beriefen wir uns, wenn wir »ewig« und »unendlich« sagten. Ihre Größe, die wir für unerreichbar hielten, machte uns Lebende bescheiden. - Das war der Punkt. Glaubst du denn, sagte Panthoos, bescheidene Helden, die erst nach ihrem Tode hoffen können zu Ruhm zu kommen, sind die richtigen Gegner für die unbescheidnen Griechen? Hältst du's für klug, die lebenden Helden nicht zu besingen, dafür die toten, und damit preiszugeben, wieviele schon getötet sind? - Aber, sagte ich, seht ihr denn nicht, um wieviel gefährlicher es ist, leichtfertig an den Grund unsrer Zusammengehörigkeit zu rühren!

- Und das sagst ausgerechnet du, Kassandra, sagte Panthoos. Glaubst selbst an nichts.

Genau wie Eumelos und seine Leute, die hinter allem stecken. Oder wo liegt der Unterschied.

Kühl wies ich ihn zurecht. Wollte der Grieche die Troerin tadeln? Wie konnte ich ihm, oder mir, beweisen, daß er unrecht hatte. Nachts schlief ich nicht. Die Kopfschmerzen begannen. Was glaubte denn ich?

Jetzt, wenn du hören kannst, hör zu, Aineias. Damit sind wir nicht zu Ende gekommen. Das muß ich dir noch erklären. Nein, es gab keinen Rest von Kummer in mir über dein Verhalten damals; daß du, selbst wenn du da warst, selbst wenn du bei mir lagst, zurückgezogen warst, das verstand ich wohl; daß du meine törichten Beteuerungen nicht mehr hören konntest, dieses ewige: Ich will doch dasselbe wie sie! Nur: Warum hast du mir nicht widersprochen. Mir nicht erspart, mich soweit zu vergessen, diesen Satz dem Eumelos selbst entgegenzuhalten, bei unserm ersten wirklich offenen scharfen Zusammenstoß.

Es war, nachdem unser armer Bruder Lykaon durch Achill das Vieh gefangengenommen und gegen ein kostbares Bronzegefäß an den gehässigen König von Lemnos verkauft worden war - eine Schmach, unter der Priamos stöhnte. Und in der Zitadelle schien es nur einen einzigen zu geben, der auf den schandbaren Übermut des Feindes die Antwort wußte; der Mann war Eumelos. Er zog die Schrauben an. Er warf sein Sicherheitsnetz, das bisher die Mitglieder des Königshauses und die Beamtenschaft gedrosselt hatte, über ganz Troia, es betraf nun jedermann. Die Zitadelle nach Einbruch der Dunkelheit gesperrt. Strenge Kontrollen alles dessen, was einer bei sich führte, wann immer Eumelos dies für geboten hielt. Sonderbefugnisse für die Kontrollorgane.

Eumelos, sagte ich, das ist unmöglich. (Selbstverständlich wußte ich, daß es möglich war.) - Und warum? fragte er mit eisiger Höflichkeit. - Weil wir uns damit selber schaden, mehr als den Griechen. - Das möcht ich gerne nochmal von dir hören, sagte er. - In diesem Augenblick sprang die Angst mich an. Eumelos, rief ich, flehend, dessen schäm ich mich noch immer: Aber glaub mir doch! Ich will doch das gleiche wie ihr.

Er zog die Lippen hart zusammen. Den konnte ich nicht gewinnen. Er sagte förmlich: Ausgezeichnet. So wirst du unsre Maßnahmen unterstützen. - Er ließ mich stehen wie ein dummes Ding. Er näherte sich dem Gipfel seiner Machtvollkommenheit.

Wie kam es, daß ich derart niedergeschlagen war. Daß ich mich in einen inneren Dialog mit Eumelos - mit Eumelos ! - verstrickte, der über Tage und Nächte ging.

Soweit war es gekommen. Ihn, Eumelos, wollte ich überzeugen. Aber wovon! hast du, Aineias, mich gefragt, da blieb ich stumm. Davon, daß wir nicht werden dürften wie Achilles, würde ich heute sagen, bloß um davonzukommen. Daß es noch nicht erwiesen sei, daß wir, bloß um davonzukommen, wie die Griechen werden müßten.

Und selbst wenn! War es nicht wichtiger, nach unsrer Art, nach unserem Gesetz zu leben, als überhaupt zu leben? Aber wem wollte ich das weismachen. Und stimmte es denn überhaupt. War nicht Überleben wichtiger. Das allerwichtigste von allem. Das einzige, worauf es ankam. So wäre Eumelos der Mann der Stunde?

Wenn aber längst die Frage anders lautete, nämlich so: das Gesicht des Feindes annehmen, aber trotzdem untergehn?

Hör zu, Aineias. Ach begreif mich doch. Das könnte ich nicht noch einmal überstehen. An manchen Tagen lag ich auf meinem Lager, trank etwas Ziegenmilch, ließ die Fenster verhängen, schloß die Augen und blieb regungslos, um das Tier, das mein Gehirn zerfleischte, nur nicht an mein Dasein zu erinnern. Marpessa ging sehr leise hin und her, sie holte Oinone, die mir sanft, wie nur sie es konnte, über Stirn und Nacken strich. Ihre Hände waren jetzt immer kalt. Kam schon der Winter?

Ja, der Winter kam. Der große Herbstmarkt vor den Toren hatte stattgefunden, ein Gespenst von einem Markt. Als Verkäufer verkleidete Eumelos-Leute, dazwischen, starr, die wirklichen Verkäufer. Als Käufer verkleidete Eumelos-Leute, zwischen ihnen, vor Schrecken unbeholfen, wir, die Käufer. Wer spielte wen? In festen Pulks, unsicher, frech, die Griechen. Zufällig stand ich eingekeilt neben Agamemnon, als der bei einem Goldschmied ohne zu feilschen einen sehr teuren, schönen Halsschmuck kaufte. Und noch einmal den gleichen, den hielt er mir hin: Ist er nicht schön? - Um uns bis zu den Horizonten Totenstille. Ich sagte ruhig, beinahe freundlich: Ja. Er ist sehr schön, Agamemnon. - Du kennst mich, sagte Agamemnon. - Wie denn nicht. - Er sah mich lange seltsam an, ich konnte seinen Blick nicht deuten. Dann sprach er leise, nur für mich verständlich: Dieses hier würd ich für mein Leben gerne meiner Tochter schenken. Sie ist nicht mehr. Irgendwie sah sie dir ähnlich. Nimm du's. - Dann gab er mir den Schmuck und machte sich sehr schnell davon.